Kolumne: Vor Gericht:Der Staat als Kavalier

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Noch so ein Ritual: Bei der Urteilsverkündung stehen alle auf (hier im Verfahren um manipulierte Abgaswerte bei VW am Bundesgerichtshof 2020 in Karlsruhe). (Foto: Thorsten Gutschalk /imago images)

Strafprozesse sind voller Rituale. Ein besonderes ist, dass Angeklagte immer das letzte Wort haben dürfen.

Von Ronen Steinke

Um die Bedeutung von besonderen Momenten zu unterstreichen, gibt es in jeder Kultur Rituale. Ein Handschlag vor dem Fußballspiel, eine Schweigeminute an einem Gedenktag, eine Tüte aus Pappe voller Süßigkeiten zum ersten Schultag. Die Handlung an sich ist oft klein, die damit ausgedrückte Anerkennung dafür groß. Und wenn man sich öfter in Gerichtssälen bewegt, zwischen verschrammten Anklagebänken und ängstlich guckenden Angeklagten, dann fallen einem auch dort erstaunliche Praktiken auf.

Einerseits hat der Staat sehr feierliche und aufwendige Rituale, um über Menschen Urteile zu verhängen. Man denke an die fließenden Gewänder der Richter, das feierliche Erheben bei der Urteilsverkündung. Im Saal wird es still, alle Augen richten sich nach vorne, manche Zuschauer falten in solchen Momenten sogar andächtig die Hände, wie bei einer Schweigeminute. (Ich selbst bin mir immer unsicher, wohin mit den Händen. Hosentaschen verbieten sich. Hände hinterm Rücken sieht auch irgendwie lümmelhaft aus.) Manche Richter legen dann sofort los. Andere kosten noch kurz die Stille aus, was selten ihre Wirkung verfehlt.

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Für den Moment, in dem eine Strafe verbüßt ist, gibt es andererseits überhaupt kein Ritual. Da kommt einfach ein Mensch aus dem Gefängnistor heraus, ein Sack mit ein paar Habseligkeiten auf dem Rücken. Er reibt sich vielleicht die Augen, zündet sich vielleicht eine Zigarette an, bleibt stehen. Hinter ihm schließt sich das Tor, allenfalls hat man ihm zuvor noch eine Busfahrkarte in die Hand gedrückt. Dass ihn draußen jemand erwartet, ist eher die Ausnahme. Eigentlich erstaunlich, wie unzeremoniell über diesen bewegenden Moment hinweggegangen wird, der doch in der Theorie so zentral ist. Jahrelanges Strafen, jahrelange "Resozialisierung": Das alles führt doch genau hierhin, an diesen Punkt. Die Wiederaufnahme des Büßers in die Gesellschaft.

Es ist oft ein bisschen einseitig, so scheint mir, wann sich der Staat in feierlicher Laune zeigt - und wann nicht. Das denke ich mir manchmal auch kurz vor dem Ende eines Strafprozesses. In diesem Moment zeigt sich der Staat als vollendeter Kavalier, zuvorkommend und höflich: Der Angeklagte bekommt das letzte Wort. Selbst wenn es fünf Tage dauert, wie bei dem Hamburger Bankräuber Michael Jauernik, hören die Juristen dann zu, ohne zu unterbrechen. Es ist ihr Ritual, das letzte Wort ist "heilig", betonen sie manchmal; und damit loben sie ihre eigene Humanität.

Aber da ist ja eh schon alles gelaufen. Man sagt, der erste Eindruck zähle, aber zu Beginn eines Prozesses gibt es diese Höflichkeit überhaupt nicht. Sondern da hat stattdessen die Anklage das Wort, die Staatsanwaltschaft, die ihre Vorwürfe verliest. Bei diesem J'accuse erhebt sich der Staatsanwalt in der Regel feierlich. Und der Beschuldigte hat still zu sein und auf gar keinen Fall zu unterbrechen.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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