Ganz allein in der Wildnis? In Büchern und Märchen kommt das öfter mal vor: Hänsel und Gretel verirren sich im Wald, und im Dschungelbuch lebt Mogli sogar zusammen mit Wölfen in einer Höhle.
Das sind alles tolle Geschichten, nur wahr sind sie eben nicht. Das aber, was drei Kindern und einem Baby in Kolumbien passiert ist, hat sich niemand ausgedacht: Rund 40 Tage lang sind die vier Geschwister durch den Regenwald gelaufen, ohne Hilfe, ohne Kontakt zur Außenwelt. Am Ende - so viel sei bereits verraten - wurden die Kinder gefunden, sehr müde, sehr hungrig, aber lebendig. Aber wieso waren sie überhaupt allein im Wald? Und wie haben sie es geschafft, dort ohne fremde Hilfe zu überleben?
Alles begann damit, dass sie zusammen mit ihrer Mutter in ein Flugzeug gestiegen sind. Die kleinste gerade mal elf Monate, die älteste 13 Jahre alt. Sie heißt Lesly. Mit dabei waren auch ihre Schwester Soleiny, 9, und ihr Bruder Tien Noriel, 5. Die vier kommen aus einem kleinen Dorf im Amazonasgebiet in Südamerika. Drum herum gibt es nur endlosen Wald. Die Geschwister gehören zu einer indigenen Gemeinschaft. Die Menschen in ihrem Dorf leben so, wie schon ihre Großeltern und Ur-Großeltern gelebt haben: von der Jagd, vom Fischfang, von wilden Früchten. Kinder lernen dort schon früh, welche Samen und welches Obst man im Wald essen kann, wo man Wasser findet und wie man sich ein Dach aus Blättern und Zweigen baut. All das hat Lesly und ihren Geschwistern wahrscheinlich geholfen, als sie allein im Wald waren.
Dort, wo die Kinder leben, gibt es kaum Straßen. Will man jemanden besuchen, muss man ein Boot nehmen oder in ein Flugzeug steigen, so wie die vier Geschwister: Sie waren auf dem Weg zu ihrem Vater, der in einer großen Stadt wohnt. Doch kurz nach dem Start bekam der Flieger Probleme. Der Pilot rief über Funk nach Hilfe, dann stürzte das Flugzeug ab, krachte in die Bäume und schlug auf den Urwaldboden auf. Die Mutter starb, ebenso wie alle Erwachsenen an Bord.
Die ersten Tage blieben die vier Kinder an der Absturzstelle und aßen, was sie im Wrack fanden. Vor allem fariña, eine Art Mehl aus Maniok, einer Pflanze, deren Wurzeln ähnlich wie Kartoffeln schmecken. Irgendwann packten sie dann ein paar Sachen ein, eine Babyflasche, zwei Taschenlampen, Stifte und Papier. Und dann gingen sie los, der Sonne nach, um Hilfe zu suchen.
Dort, wo das Flugzeug abgestürzt war, ist der Wald sehr dicht. Manchmal sieht man nur ein paar Meter weit. Es gibt Bäume so hoch wie mehrstöckige Häuser, giftige Schlangen, Raubtiere wie Jaguare, fiese Mücken und jede Menge Regen.
Wie genau die Kinder ihre Zeit verbracht haben, weiß man noch nicht. Vermutlich sind sie manchmal durch den Dschungel gewandert, dann wieder blieben sie auf kleinen Lichtungen, verkrochen sich unter Bäumen und schützten sich mit großen Blättern vor dem Regen. Die Älteren haben Essen gesucht - und das Baby getragen, gewickelt, gefüttert.
Während die Kinder im Wald unterwegs waren, fingen Spezialeinheiten der Armee damit an, nach ihnen zu suchen - mit Hunden, Hubschraubern und der Hilfe von Menschen, die in der Region wohnen. Außerdem warfen sie Essenspakete über dem Wald ab - mit Wasser, Sandwiches, Keksen und Feuerzeugen. Aber die Kinder blieben verschwunden. Vielleicht war der Wald einfach zu dicht? Vielleicht haben sich Lesly und ihre Geschwister aber auch versteckt? Denn dort, wo sie wohnen, gibt es bewaffnete Schmugglerbanden. Menschen werden bedroht und auch umgebracht. Vielleicht wollten die Kinder also gar nicht gefunden werden? Vielleicht hatten sie Angst vor der Suchmannschaft? Deshalb spielte die Armee Aufnahmen der Stimme ihrer Großmutter im Wald ab - in der Hoffnung, dass die Kinder sie hören und Vertrauen fassen würden. Trotzdem blieb die Suche lange erfolglos. Nur ein Spürhund namens Wilson schaffte es zu den Kindern. Ein paar Tage blieb er bei ihnen, dann ging er selbst im Wald verloren. Es waren aber wohl seine Spuren, die die Helfer zu den Kindern geführt haben.
Als Erstes, so haben es die Retter später erzählt, hätten die Kinder nach etwas zu essen gefragt. Sie bekamen zu essen, zu trinken, wurden in wärmende Planen gewickelt. Dann flog ein Hubschrauber sie aus dem Wald. Mittlerweile sind sie in Bogotá, einer großen Stadt in Kolumbien. Sie haben viele Mückenstiche und großen Hunger. Ansonsten geht es ihnen körperlich gut. Ihr Vater und andere Familienmitglieder haben sie besucht, ebenso der Präsident.
Ein paar Tage müssen die Kinder noch im Krankenhaus bleiben, dann dürfen sie heim. Vielleicht feiern sie dort ihre Rettung, aber auch den Geburtstag von Cristin, der Jüngsten der vier Geschwister: Sie ist im Dschungel ein Jahr alt geworden.