Wertach im Allgäu. Ganz oben, am Ende der Dorfstraße, die sich an schmucken Gärten und der weißen Dorfkirche vorbei den Berg hinaufschlängelt, liegt die Rettung. Hier landen Mütter aus ganz Deutschland an. Frauen, die eine Auszeit brauchen, die zu Hause einfach nicht mehr weiterwussten.
"Am Berg 11", eine verheißungsvolle Adresse. Unter roten Satteldächern liegt hier eine Kurklinik des Müttergenesungswerks. Die Terrasse gibt den Blick frei auf eine eindrucksvolle Bergkette, die selbst an diesem verregneten Sommertag vor allem Ruhe ausstrahlt. Ruhe: Nichts brauchen die Mütter, die hierherkommen, mehr. Nach der kurvenreichen Dorfstraße beginnt für sie ein völlig anderes Leben. Drei Wochen ohne Verpflichtungen und Termindruck. Eine Zeit, in der nicht mehr sie sich um alles kümmern müssen, sondern in der sie selbst im Mittelpunkt stehen. Wie das ist, das haben die meisten Frauen hier längst vergessen.
So ging es auch Antje Becker aus dem Rheinland. Seit zehn Tagen kurt die Sozialarbeiterin, die wie alle Patientinnen in dieser Geschichte eigentlich anders heißt, nun schon in der Fachklinik St. Marien in Wertach. Lange hatte sie zuvor durchgehalten, obwohl ihr schon seit Jahren alles zu viel war. Doch dann hatte ihr Körper ihr unmissverständlich gezeigt, dass es so nicht weitergeht: "Ich habe ein Reizdarmsyndrom entwickelt, war zudem ständig erschöpft, müde und gereizt", erzählt die schlanke junge Frau. Viel zu oft hat sie ihre fünf und acht Jahre alten Kinder ausgeschimpft. "Dieser Mehrfach-Stress - auf der Arbeit und zu Hause - hat mich fertiggemacht. Es ist mir nicht gelungen, mich dabei nicht zu verlieren."
Innere Leere, Freud- und Lustlosigkeit
Ähnlich wie Antje Becker fühlen sich die meisten Frauen, die zur Zeit in Wertach kuren. Früher hatten die Patientinnen in den Kliniken des Müttergenesungswerks vor allem Probleme mit den Atemwegen, Muskeln oder Knochen. Inzwischen aber leiden fast alle Patientinnen unter Erschöpfung bis hin zum Burn-out-Syndrom, jenem Ausgebranntsein, das Ärzte eigentlich nicht als Diagnose kennen, das aber so viele Menschen bei sich erleben, dass es längst ein eigenes Dasein in der Sprache und Wahrnehmungswelt der Menschen erhalten hat. Burn-out, das ist diese innere Leere, diese Freud- und Lustlosigkeit, die fehlende Kraft, der gestörte Schlaf und die Angst, im Alltag nicht zu bestehen. Es ist ein Erschöpfungssyndrom mit depressivem Mitklang.
Umgang mit Stress:Kopf in den Sand macht krank
Warum brillieren einige unter Druck - und andere brechen zusammen? Wie kann man Belastungen vorbeugen? Und was hilft, wenn der Kopf schwirrt? Was Sie über Stress wissen sollten und wie Sie am besten damit umgehen.
Einst waren es Menschen in sozialen Berufen, für die der New Yorker Psychotherapeut Herbert Freudenberger den Begriff Burn-out in den Siebzigerjahren erfunden hat. Menschen, die ihre Tätigkeit meist mit großem Engagement und Idealismus ausübten, waren bald überfordert, lustlos und auch körperlich krank. Auf die berufliche Höchstleistung folgte das Ausgebranntsein. Zuletzt hat das Burn-out-Syndrom Menschen in allen Berufen getroffen. Und jetzt ist eine ganz neue Klientel davon bedroht: die Mütter.
"Vor zehn Jahren klagten noch 49 Prozent unserer Patientinnen über Erschöpfungszustände oder stressbedingte psychische Störungen, inzwischen sind es 86 Prozent", sagt Anne Schilling, die Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks. Und sie kann auch eine Erklärung für den dramatischen Anstieg liefern: "Das hat mit der steigenden Belastung für die Frauen zu tun." Zwar seien die Erwartungen an Gleichberechtigung im Alltags- und Arbeitsleben groß, so Schilling. "Die Wirklichkeit mit ihrer immer noch traditionellen Rollenverteilung steht dazu aber in erheblichem Widerspruch."
Die Lasten des Familienlebens, sie bleiben weiterhin großenteils an den Frauen hängen, weil das alte Mutterbild, wonach Frauen rund um die Uhr für ihre Familie zu sorgen haben, in den Köpfen bestehen bleibt. Zugleich sind die Ansprüche an die Bildungserfolge der Kinder gestiegen - und auch an die Qualität der Erziehung: Während die heutige Großelterngeneration ihre Kinder irgendwie großgezogen hat, plagen die Eltern von heute oft Selbstzweifel. "Es fällt wirklich auf", sagt Antje Schilling. "Fast alle Frauen wollen unbedingt besonders gute Mütter sein. Und angesichts dieses Dilemmas haben sie immer öfter das Gefühl, individuell zu versagen."
"Ich habe das Gefühl, wieder zu wissen, wer ich bin"
Wie Antje Becker fahren die Mütter oft erst zur Kur, wenn gar nichts mehr geht. "Es war schwierig für mich zu realisieren, dass ich der Doppelbelastung nicht standhalte", sagt sie. Als Becker nach Wertach kam, hat sie zunächst einfach die Stille genossen. Oben auf dem Berg hat die liebe Seele fast zwangsläufig ihre Ruh. Die Berge, sie stehen da und werden noch eine Weile da stehen, gleich, was passiert. In der Ferne läuten die Glocken der Allgäuer Kühe. Ansonsten gibt es nicht viel zu hören und zu sehen. Fernseher gibt es auf den Zimmern nicht. Internetzugang gibt es nur in der Cafeteria. "Es soll ruhig mal ein Gefühl von Leere auftreten", sagt der Klinikleiter Markus Erhart. "Nur so können neue Gedanken und Empfindungen entstehen."
Für Antje Becker ist nun Halbzeit in Wertach. Hat sich durch die Kur etwas in ihr verändert? "Jaaa", sagt sie aus vollem Herzen. Ihre Hände ziehen dabei zwei große Halbkreise - eine Rundum-Wohlfühl-Bewegung. "Der Aufenthalt hier tut mir sehr gut", bekräftigt Becker. Auch wenn die körperlichen Symptome natürlich nicht so leicht abklingen. "Ich weiß, dass es mit meinem Darm nicht so schnell geht", sagt sie. "Aber ich habe das Gefühl, wieder zu wissen, wer ich eigentlich bin und was meine Bedürfnisse sind."
Das herauszufinden, dabei versuchen die Psychologinnen und Ärzte in der Kurklinik den Frauen zu helfen. Zweimal pro Woche ist eine Psychotherapie-Sitzung vorgesehen, ebenfalls zweimal pro Woche gibt es Bewegungstherapie. Das kann Nordic Walking sein, Gymnastik oder Aqua-Jogging. "Dabei geht es aber noch mehr um die eigene Körperwahrnehmung als um die Bewegung an sich", sagt Klinikleiter Erhart.
Weil sich die Frauen nur noch um den Rest der Familie kümmern, hätten sie das Gefühl für den eigenen Körper oft völlig verloren. "Eigentlich betrachten wir den ganzen Aufenthalt als therapeutisches Gesamtkonzept", sagt Erhart. Die schöne Natur leiste dazu ebenso ihren Beitrag wie die fürsorgliche Atmosphäre. "Den Frauen fehlt zu Hause oft die Wertschätzung. Bei uns sollen sie die erfahren." Deshalb müssen sich die Frauen das Essen auch nicht am Buffet holen, sie bekommen es am Tisch serviert. Die Botschaft lautet: Lass es dir gut gehen.
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Die fehlende Wertschätzung ist das große Thema in der Klinik St. Marien. Die meisten Arbeitnehmer bekommen schon zu wenig positives Feedback. Aber Mütter erhalten für das, was sie leisten, fast nie ein Lob. Die Kinder reiben sich an ihnen, der Mann hat seine eigenen Sorgen. Wie viel Mühe Hausarbeit und Kindererziehung machen, wird von Familie und Gesellschaft kaum anerkannt.
Die Ärztin Gabriela Gaschler versucht, den Frauen eine neue Sicht auf ihr Leben zu ermöglichen. "Die Frauen laufen oft wie Hamster in einem Rad. Dabei kommen sie natürlich gar nicht mehr zum Nachdenken", sagt die Allgemeinärztin. Aus allen Schichten kommen die Frauen, die in Wertach kuren. "Oft werde ich gefragt: Habt ihr da so Hartz-IV-ler, die nicht klarkommen?", erzählt Gabriela Gaschler. "Aber das ist völliger Unsinn. Apothekerinnen kommen ebenso zu uns wie Verkäuferinnen, Pfarrerinnen oder Lehrerinnen. Auch sind 57 Prozent der Frauen in den Kuren verheiratet."
"Kreativität ist das Erste, was man verliert, wenn man wenig Zeit hat"
Gaschler ist selbst vierfache Mutter. Sie weiß, wie schnell man in dieser Rolle in den Hintergrund tritt. Doch anders als für viele Mütter in der Kurklinik, die auch äußerlich in die Statistenrolle ihres eigenen Lebens geschlüpft zu sein scheinen, ist der Hintergrund nichts für Gabriela Gaschler, eine imposante, farbenfrohe Erscheinung mit langen, rot gefärbten Haaren und auffälligem Schmuck. "Für mich ist diese Arbeit in der Klinik so schön, weil ich hier Anregungen geben kann", sagt sie. "Den meisten Patientinnen fällt es am Anfang sehr schwer herauszufinden, was ihnen wirklich wichtig ist. Aber nach und nach gelingt ihnen das." Viele Frauen widmeten sich dann auch wieder kreativen Dingen. Sie basteln, schreiben oder machen Musik. "Kreativität ist oft das Erste, was man verliert, wenn man zu wenig Zeit hat", sagt Gaschler. "Man denkt, es sei nicht lebensnotwendig. Dabei ist es das sehr wohl."
Wünsche zu haben, Bedürfnisse zu spüren, überhaupt mal Fragen zu stellen und Dinge infrage zu stellen - das haben viele Patientinnen hier vergessen. "Frauen sind sehr pflichtbewusst", sagt die Ärztin Gaschler. "Männer haben ein viel besseres Abgrenzungspotenzial." Da hilft es, wenn den Frauen mal jemand anders die Fragen stellt: Musst du wirklich jedes zweite Wochenende zur Schwiegermutter fahren? Sind Kinderhosen das Bügeln wert, wenn sie doch gleich im Sand landen? Wo stehst du eigentlich? Wo willst du hin? Und was willst du nicht mehr tun?
Auch Antje Becker hat sich diese Fragen gestellt - und aus den Antworten einiges gelernt. Das Erste war: Sie will hier in Wertach allein bleiben. Ursprünglich wollten Mann und Kinder ein Wochenende zu Besuch kommen. "Aber dann habe ich nee gesagt", erzählt Becker. "Ich habe gemerkt, dass mir der Abstand sehr guttut."
Ein paar Minuten Alleinsein als Kraftreservoir
Auch weitere Schlüsse hat sie gezogen: "Ich habe die Anmut der Langsamkeit wiedererkannt", sagt sie in meditativer Überzeugung. "Ich bin mir jetzt bewusst, dass es mir besser geht, wenn ich mir mehr Zeit lasse." In Zukunft will sie morgens früher aufstehen, um mehr Zeit für sich zu haben, bevor sie die Kinder weckt. "Diese Ruhe mit in den Tag zu nehmen, ist für mich Gold wert", sagt sie bestimmt. Ob ihr das auch gelingen wird, wenn sie wieder daheim ist? "Ich hoffe, dass ich mir etwas davon erhalten kann", sagt Antje Becker vorsichtig.
Klinikleiter Markus Erhart macht ihr Mut. "Viele Frauen sagen hinterher: Die Kur war ein Wendepunkt in meinem Leben." Auch zeigten Studien, dass die Zahl der Arztbesuche nach einer Kur längerfristig abnimmt. Offenbar ist der Effekt doch nachhaltig.
Petra Frentzen hat die Bewährungsprobe schon bestanden. Vor vier Monaten war die Sozialpädagogin aus Nürnberg zur Kur. Und noch hat sie einiges in ihren Alltag hinübergerettet. "Ich nehme mir mehr Auszeiten als früher", sagt die 34-Jährige, die Mutter einer siebenjährigen Tochter und eines fünfjährigen Sohnes ist. Und sie muss schon fast lachen bei dem Gedanken daran, dass ein paar Minuten Alleinsein für Mütter schon ein Kraftreservoir sind.
Das Lachen hatte sie fast verlernt. "Vor der Kur habe ich nie mehr gesagt, dass ich mich glücklich fühle", erinnert sie sich. Am schlimmsten war die Rund-um-die-Uhr-Belastung: "Man steht ja immer parat", sagt Frentzen, "auch nachts." Bis ihr Sohn drei Jahre alt wurde, war er jede Nacht zwei Stunden wach. Ihr Mann hat davon wenig mitbekommen. Doch sie litt unter dem chronischen Schlafmangel. Und gleichzeitig fragte sie sich ständig: Wie kann es sein, dass ich mich überfordert fühle - ausgerechnet ich als Pädagogin?
Als dann noch die Streptokokken kamen, war es zu viel für Petra Frentzen. Ein Familienmitglied nach dem anderen wurde schwer krank. Wer Jahre am Rand des Möglichen entlangschrappt, bei dem genügt oft ein Auslöser, um die Welt aus den Angeln zu reißen. Bei Petra Frentzen waren das die Streptokokken. Damals war sie nur noch unglücklich. Sie begann den Tag schon mit einer düsteren Wolke auf dem Gemüt. Alles war zu viel. Als sie die Entscheidung für eine Kur traf, war schnell klar: Es sollte eine Kur für sie allein sein.
Doch Kuren ohne Kinder, wie Petra Frentzen und Antje Becker sie genossen haben, sind heute die große Ausnahme. Nur fünf der 77 Kurkliniken des Müttergenesungswerks sind allein für Frauen gedacht. In allen anderen kommen die Kinder mit. Dabei hatte die Gründerin des Müttergenesungswerks, Elly Heuss-Knapp, Müttern schon 1950 Kuren außerhalb der Familie ermöglichen wollen. Dass dies heute kaum noch nachgefragt wird, mag auch ein Zeichen dafür sein, dass es ohne die Mütter zu Hause oft nicht geht. Oder dass Mütter und Väter denken, es gehe nicht ohne sie. "Für die meisten Frauen wäre es aber wichtig, sich endlich einmal auf sich selbst zu besinnen", sagt Klinikleiter Erhart.
Auch Antje Becker weiß: "Eine Mutter-Kind-Kur hätte nicht so schnell Erfolge gebracht." Allerdings ist das schlechte Gewissen in Wertach nun ein ständiger Begleiter. "Sieh zu, dass du nicht am Ende reif für eine Kur bist", hat Antje Becker neulich noch zu ihrem Mann gesagt.
Dinge können auch gut sein, ohne dass sie perfekt sind
Die Kuren ohne Anhang haben einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Vorteil: Die ganze Familie erkennt zwangsläufig, dass sie auch ohne die Mutter über die Runden kommt. "Das ist eine Lehre, die nicht nur gut für Vater und Kinder ist, sondern auch für die Mütter", sagt die Ärztin Gabriela Gaschler. "Denn allzu oft haben Frauen ihren Anteil an der eigenen Erschöpfung, sie können nicht loslassen."
Auch Petra Frentzen musste lernen, ihren Mann einfach mal machen zu lassen. Wenn die Spülmaschine ineffizient eingeräumt oder die Wäsche faltenreich aufgehängt ist, dann ist es eben immer noch besser, als wenn das schmutzige Geschirr noch auf dem Tisch steht und die Wäsche in der Maschine wartet. "Ich versuche heute, vieles lockerer zu sehen", sagt Frentzen. Dazu gehört es auch zu erkennen, dass sich manche Probleme nicht durch immer mehr Effizienz lösen lassen. Dinge können auch gut sein, ohne dass sie perfekt sind.
Antje Becker hat das für sich erkannt: "Ich muss mich von meiner Maximal-Perfektions-Erwartung verabschieden", sagt sie. Das vermeintlich gemütliche Familienfrühstück, das muss eben nicht sein, wenn es gar nicht gemütlich ist, weil zum Beispiel der Sohn morgens ständig schlechte Laune hat. Familie Frentzen geht genau damit inzwischen pragmatisch um. Jetzt geht halt jeder morgens seiner Wege. Es ist so zwar nicht wie in der Rama-Werbung. Aber das war es, was die Stimmung betraf, vorher schließlich auch nicht.