SZ: Frau Hagen, sind Sie eine Träumerin oder haben Sie einen Helferkomplex?
Hagen: Ich bin Idealistin. Ich glaube daran, dass der Mensch grundsätzlich ein liebendes Wesen ist. Aber aus verschiedenen Gründen sind viele nicht in der Lage, diese Liebe oder Empathie zu leben. Ich frage mich immer, was falsch daran sein soll zu helfen. Ich fahre an Brennpunkte dieser Welt, um das Leid dieser Menschen zu erfahren, es zu spüren. Wir können nicht ahnen, was in jemandem vorgeht, der gerade einen Familienangehörigen und seine Heimat verloren hat, wenn wir uns nicht direkt damit konfrontieren. Ich will helfen und verstehen.
Jeannette Hagen, 49, ist Coach und Autorin mehrerer Sachbücher. Zuletzt erschien "Die leblose Gesellschaft. Warum wir nicht mehr fühlen können" (Europa Verlag, 192 S.)
Sie setzen sich für Flüchtlinge ein, doch Kritiker werfen Ihnen vor, dass man nicht die halbe Welt hierherholen kann.
Ich denke, wir lügen uns in die Tasche, wenn wir glauben, dass wir folgenlos Staaten zerstören und ausbeuten können. Früher oder später begeben sich die Menschen auf den Weg. Zu Recht. Die meisten können sich eine Flucht nicht leisten, aber viele werden kommen. Sie werden sich nicht aufhalten lassen - jedenfalls nicht in der Form, wie es jetzt versucht wird. Warum sollten Menschen denn auch nicht woanders nach besseren Lebensbedingungen suchen? Verwundert es wirklich jemanden, dass sich viele Syrer nach fünf Kriegsjahren auf den Weg machen? Denken Sie daran, wie viele Millionen Europäer vor dem Zweiten Weltkrieg geflüchtet sind. Alles ist besser, als auf den Tod zu warten. Ich denke, Grenzen hochzuziehen funktioniert einfach nicht mehr. Wir müssen uns darauf einstellen, dass sich diese Welt verändern wird. Und wir müssen an probaten Lösungen arbeiten.
Sie schreiben, in Ihren Augen gibt es keine Flüchtlingskrise.
Ja, genauso sehe ich das. Die Menschen, die zu uns kommen, zeigen uns lediglich eine Krise, in der wir uns auch zuvor schon befanden. Sie spiegeln den Status quo einer ungerechten Weltordnung wieder. In den Flüchtlingsbooten, die in Lesbos landeten, saßen Menschen, die seit Jahren unterwegs waren. Familien aus dem hintersten Winkel von Nepal zum Beispiel. Menschen, die vor Umweltkatastrophen, vor Krieg, vor Armut geflohen sind. Was ist das für eine zynische Haltung, diesen Menschen die Tür vor der Nase zuzuschlagen? Wir alle tragen die Verantwortung für den Zustand dieser Erde. Wir können uns nicht mehr herausreden.
Sie behaupten zudem, dass manche mit Abwehr reagieren, weil ihnen die Flüchtlinge vor Augen führen, wie unfähig sie selbst sind, mutige Entscheidungen zu treffen.
Schauen Sie sich um: Wie viele Deutsche sind in ein Leben verstrickt, das sie nicht mögen. Sie lehnen ihren Job ab, die Regierung, den Nachbarn - und sehen für sich selbst keine Chance, etwas zu verändern. Plötzlich kommen Menschen, die alles aufgeben, um sich nach einem besseren Leben umzusehen. Das ist wie ein Schlag ins Gesicht. Wir können bei uns selbst beobachten, wie schnell Neid aufkommt, wenn ein anderer etwas erreicht, das wir uns nicht zutrauen. Studien belegen, dass wir, selbst wenn wir genügend Geld zur Verfügung hätten, fast alle in unserem Kontext verhaftet bleiben und nichts Neues wagen. Obwohl es Deutschland so gut wie noch nie geht, haben viele den Eindruck, daran nicht beteiligt zu sein - also auch keinen Beitrag dazu geleistet zu haben. Die Trennung verläuft nicht nur zwischen Arm und Reich, sondern auch zwischen Staat und Bürger. Darum ist es nicht verwunderlich, dass sich ein neuer Nationalismus herausbildet. Schließlich suchen die Menschen nach Halt, nach Identität. Außerdem sind wir Deutschen Meister darin, im Konjunktiv zu leben ...
Man müsste ...
Hätte, würde, könnte, doch nichts passiert. Wir haben verlernt, mutige Entscheidungen zu treffen. Manche leben gehorsam nach Regeln, die sie nie hinterfragt haben. Es geht nicht darum, jene zu verurteilen, die nicht handeln. Ich will zeigen, dass das Gründe hat und dass wir uns, wenn wir wirklich etwas verändern wollen, damit auseinandersetzen müssen: Warum fühlen sich viele abgehängt? Was haben Sprache und Erziehung mit unserem Verhalten gegenüber Flüchtlingen zu tun?