Reportage:Alle Tassen im Schrank

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"Es geht eine Wärme von ihnen aus" - auch bei Eis und Schnee: ein Getränkeautomat in Japan. (Foto: Eiji Ohashi)

Wasser, Elektrolytdrinks, Cola, Tee und Dosenkaffee in erleuchteten Schaufenstern: In Japan steht an jeder Ecke ein Getränkeautomat. Der Fotograf Eiji Ohashi widmet ihnen eine Art Kunstprojekt.

Von Thomas Hahn

Es begann mit einem dieser Schneestürme, die im Winter regelmäßig über die nordjapanische Stadt Wakkanai fegen. Eiji Ohashi war mit dem Auto unterwegs. Angestrengt schaute er an den Scheibenwischern vorbei, die gegen den Flockenwirbel ankämpften. Es war dunkel. Die Scheinwerfer konnten sich kaum durchsetzen gegen die Wolken aus Schnee, die der Wind über die Straße blies. Er wusste nicht mehr, wo er war. Bis auf einmal ein bläulicher Schimmer durch den Nebel brach. Ein Getränkeautomat, aufrecht und erleuchtet. Eiji Ohashi erkannte die Stelle. Er wusste wieder, wo er war. An den Straßen zu seinem Haus standen mehrere Getränkeautomaten. An denen orientierte er sich und fand den Weg.

So erzählt der Fotograf Eiji Ohashi, 65, die Geschichte von seiner Entdeckung der japanischen Getränkeautomaten. Sie klingt nach Erweckungserlebnis oder Erleuchtung. So als wäre ihm an jenem Abend vor 13 Jahren mit dem Licht im Sturm ein Geist erschienen, der ihm auftrug, fortan die Getränkeautomaten zum Mittelpunkt seines Schaffens zu machen. Aber so meint Eiji Ohashi das nicht. Er ist ein leiser Mensch mit ruhigen Augen. Er will sich nicht aufspielen. Im Gegenteil, er will die Aufmerksamkeit vom großen Theater der Konsumwelt auf die kleinen Herrlichkeiten am Wegesrand lenken, auf jene stummen Verkäufer, die so selbstverständlich geworden sind in Japan, dass man sie gar nicht mehr richtig sieht.

Damals im Sturm hat Eiji Ohashi verstanden, welche Kraft die Kulisse der Gewohnheit hat. Und dass er sich darauf konzentrieren sollte, diese festzuhalten. Seither fotografiert er Getränkeautomaten.

Im Hinterland wirken sie wie eine wahr gewordene Fata Morgana

2,3 Millionen Getränkeautomaten gibt es in Japan. Sie verteilen sich auf das gesamte Land, von Okinawa im äußersten Süden bis Hokkaido, im höchsten Norden. In den Städten hat man manchmal das Gefühl, dass es an jeder zweiten Straßenecke einen Getränkeautomaten gibt. Im Hinterland wirken sie oft wie eine wahr gewordene Fata Morgana inmitten von Weite und Trostlosigkeit. Die Automaten selbst sehen immer gleich aus: eckige Kästen mit Ausgabelade. Im erleuchteten Schaufenster sind die Kalt- und Heißgetränke aufgereiht, die man für ein paar Münzen aus dem Gerät ziehen kann. Wasser, Elektrolytdrinks, Cola, Tee, Dosenkaffee. "Es gehört zur japanischen Kultur, dass man überall einen vertrauten Komfort findet", sagt Eiji Ohashi. In einem anderen Interview hat er mal gesagt: "Ich sehe sie mehr als Wesen denn als Automaten. Es geht eine Wärme von ihnen aus."

"Ich sehe sie mehr als Wesen denn als Automaten": Eiji Ohashi. (Foto: Eiji Ohashi)

In seinen Bildern wirken die Getränkeautomaten wie stoisch schimmernde Figuren, die sich auf den verschiedenen Etappen einer Japan-Reise haben fotografieren lassen. Mal stehen sie allein am Wasser oder in den Bergen, mal in Gesellschaft von Laternenmasten, Bäumen, Containern. Manchmal sieht es so aus, als hätten sie sich mit anderen Getränkeautomaten zum Gruppenbild aufgestellt. Dann wieder sind sie der Farbtupfer vor einer rissigen Fassade oder eine helle Gestalt in nachtblauer Winterlandschaft. Ohashis Bilder zeigen das beiläufige Leuchten des Wohlstandslandes, den Luxus, den niemand mehr als Luxus wahrnimmt. Die Automaten bieten jeden Tag zu jeder Zeit überall etwas zu trinken. Anderswo auf der Welt kämpft man um Wasser. Glückliches Japan.

Es ist sicher kein Zufall, dass einer wie Eiji Ohashi diese Tiefe im Detail sieht. Wakkanai in der Präfektur Hokkaido ist die nördlichste Stadt Japans. Sie ist umgeben von einer unverstellten Natur, die in jeder Jahreszeit die Farben wechselt und schneereiche Winter kennt. Wer dort aufgewachsen ist wie Ohashi, der ist nicht abgelenkt vom ewig blinkenden Spektakel der Großstädte, in dem Getränkeautomaten nur ein Licht von vielen sind.

"Ich bin eine Art Marke geworden", sagt er

Als Fotograf ist Eiji Ohashi ein Autodidakt. Früher war er Beamter bei der Post. Er verkaufte dort Lebensversicherungen. Er war erfolgreich, deshalb durfte er mehr Urlaub nehmen als die zwei Wochen, die Arbeitnehmer in Japan normalerweise im Jahr haben. In den Achtzigerjahren begann er damit, regelmäßig in den Himalaja zu reisen. "20 Jahre lang bin ich jedes Jahr dorthin gereist", sagt er. Nepal, Tibet. Auf seinen Touren fotografierte er zunächst seine Spuren im Schnee. Dann fiel sein Blick auf die Menschen der Gegend. "Also fotografierte ich die." Bis 2007 tat er das. Aus den Bildern wurde sein erster Bildband "Identität als Uigure". Er gewann Preise.

Dann entdeckte er die Getränkeautomaten. Er machte sich als Fotograf selbständig. Er verdiente sich seinen Unterhalt, indem er für die Immobilien-Industrie neue Gebäude ablichtete, und betrieb nebenbei sein Projekt "Roadside Lights", Lichter am Straßenrand. Heute ist er etabliert als der Mann, der Japans Getränkeautomaten porträtiert. Ausstellungen in Paris, Rotterdam, Tokio. Mehrere Bildbände. Im Herbst erzielte das Bild eines verschneiten Getränkeautomaten bei einer Auktion in London einen Preis von 4,5 Millionen Yen, knapp 36 000 Euro. Eiji Ohashi sagt: "Ich bin eine Art Marke geworden."

Wenn die Getränkeautomaten eine Seele hätten, müssten sie ihm dankbar sein. Durch Ohashi werden sie zum Kunstobjekt. In Wirklichkeit sind sie Ausgeburten des Kommerzes.

In Japan stiehlt niemand etwas aus einem Automaten

In einem Büro in Tokio sitzt Akihiro Iwata, Getränkeautomaten-Fachmann aus dem verzweigten Firmengeflecht des japanischen Getränke-Unternehmens Suntory. Suntory betreibt etwa 400 000 Getränkeautomaten im Inselstaat und ist damit im Automaten-Sektor Japans Nummer zwei hinter der amerikanischen Coca-Cola Company und deren japanischen Töchtern mit 700 000 Verkaufsmaschinen. "In unserem Softdrinkgeschäft in Japan macht der Umsatz aus Automaten 30 Prozent des Gesamtumsatzes aus", sagt Iwata.

Suntorys Geschichte begann vor 120 Jahren mit der Produktion von Alkoholika: Whiskey, Wein, Bier. Die Firma stand lange für einen japanischen Zeitgeist, in dem Erfrischungsgetränke mit Kohlensäure keine sehr große Rolle spielten. Aber dann brachte Coca-Cola seine überzuckerten Sprudel-Limonaden nach Japan und drängte sie dem Land nach allen Regeln des Vermarktens auf. Die Getränkeautomaten waren so etwas wie die stillen Soldaten dieses Feldzugs.

Warum gibt es in Japan heute so viele davon? Akihiro Iwata zählt auf: "Erstens ist es praktisch." Man muss fast nie weit gehen, um zu jeder Tages- und Nachtzeit Getränke zu bekommen. "Ein zweiter Faktor: Sicherheit." Japan hat wenig Kriminalität. Niemand macht die Automaten kaputt oder plündert sie. Drittens: "Es gab eine Zeit, in der alle Hersteller an den Marktanteil denken mussten."

Es begann ein Wettlauf um Straßenecken

Den ersten Getränkeautomaten stellte Coca-Cola in Japan 1962 auf. In den Siebzigern kam schon das heutige Modell, aus dem man kalte und warme Getränke ziehen kann. In den Neunzigern veränderte die Industrie das Betriebssystem der Automaten. Bis dahin wurden sie von Privatleuten betreut, die Automaten bei den Getränkefirmen mieteten, diese mit deren Produkten befüllten und dann am Umsatz beteiligt waren. Mit dem Wechsel übernahmen die Firmen den kompletten Betrieb selbst. "Der Privatmann muss heute nur noch den Ort anbieten und die Stromkosten zahlen", sagt Akihiro Iwata. Den Rest erledigen professionelle Getränkeautomaten-Betreuer im Auftrag der Unternehmen. "Wir liefern die Automaten und machen alles, befüllen, säubern, Bargeld einsammeln, Recycling."

Die Unternehmen konnten dadurch besser steuern, wo sie einen Automaten aufstellen wollten. In der Getränkeindustrie begann ein Wettlauf um Straßenecken und Wegesränder. Jeder Getränkeautomat ist im Grunde auch eine Werbesäule für die Getränkefirma, aus der er stammt. Es ging nicht nur um guten Umsatz, es ging auch darum, den Markennamen in die Landschaft zu setzen. "Daran liegt es wahrscheinlich, dass Sie auch an verlassenen Orten Automaten sehen", sagt Akihiro Iwata.

Die Zeit des Getränkeautomaten-Booms ist vorbei. In einem Interview hat Calin Dragan, der Präsident der Coca-Cola Bottlers Japan, zwar zuletzt gesagt, Coca-Cola wolle seine Automaten-Vormacht weiter ausbauen. Aber Suntory-Mann Iwata sagt: "Der Rückzug ist zu beobachten." Entlegene Automaten, die nichts bringen, werden abgebaut. Suntory hat eine eigene Scouting-Abteilung, die nach einträglichen Automaten-Standorten Ausschau hält. Die Getränkeautomaten-Betreuer wiederum beobachten genau, wer wo welches Getränk wie oft aus den Automaten holt, passen das Angebot an, prüfen, welche sie häufiger und welche sie seltener befüllen müssen, entscheiden, ob ein Automat wegmuss oder bleiben kann. In der Pandemie war der Umsatz schlecht. "Viele Leute bleiben zu Hause", sagt Iwata. Die Laufkundschaft fehlte.

Nach dem Tsunami standen sie immer noch

Eiji Ohashi kennt die Interessen, die an den Getränkeautomaten hängen. Er hat keine Berührungsängste. "Ich mache die Bilder nicht aus Werbezwecken", sagt er, "aber ich freue mich, wenn die Industrie sich äußert." Sein neuestes Buch "Road Side Lights Seasons: Winter" ist eine Kommissionsarbeit für Coca-Cola. Die Nähe zur Wirtschaft hilft, seine Kunst zu finanzieren und in Ruhe darüber zu reden.

Er sinniert gerne über die Getränkeautomaten. Er erinnert sich, wie er im Oktober 2011 an Japans Ostküste war. Es war sieben Monate nach dem verheerenden Tsunami. Die Aufräumarbeiten liefen, überall waren noch die Trümmer der Häuser. "Und in dieser ganzen Zerstörung standen die Getränkeautomaten und strahlten mich an." Standhafte Verkäufer, unbeeindruckt, als wäre nichts gewesen. "Von den Getränkeautomaten geht das Gefühl aus, dass jemand für einen da ist", sagt Eiji Ohashi. Er klingt liebevoll, wenn er von ihnen spricht, und wenn er sie fotografiert, nimmt er sich Zeit.

Freunde machen ihn auf geeignete Automaten aufmerksam, oder er findet sie selbst. Dann stellt er seine Hasselblad auf, seine Kamera schwedischen Fabrikats, meistens nachts, damit keiner ins Bild läuft. Niedrige Lichtempfindlichkeit, lange Belichtungszeit. "Fünf, sechs Minuten pro Schuss." Bis zu eineinhalb Stunden dauert es, bis Ohashi die Modelle richtig ins Bild gesetzt hat.

Zuletzt hat er einen Getränkeautomaten an der Rainbow Bridge in Tokio fotografiert, und er hat noch viel vor. Ihm fehlen Bilder von Getränkeautomaten auf der Südinsel Kyushu. Die Teilregion Hokuriku im Westen der Hauptinsel Honshuh steht auf seiner To-Do-Liste. "In Okinawa war ich auch noch nicht oft." Irgendwann soll die Sammlung komplett sein mit Getränkeautomaten-Porträts aus allen Teilen Japans. Eiji Ohashi nennt die Aufgabe "mein Lebenswerk". Die Leute sollen sehen, wie Japan leuchtet.

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