Helikopter-Eltern:Verwöhnung, Kontrolle und panische Frühförderung

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Immer mehr Kinder drohen in der "Gluckenfalle" zu landen, meint der Pädagoge Josef Kraus. (Foto: dpa)

Sie tun alles für ihre Lieben, sie räumen jedes Unwohlsein sofort aus dem Weg, sie verwehren ihren kleinen Prinzen und Prinzessinnen nichts und kontrollieren sie so engmaschig wie die NSA. Die Rede ist von sogenannten "Helikopter-Eltern". Der Pädagoge Josef Kraus warnt nun in seinem Buch vor den Folgen der Überfürsorge.

Von Johan Schloemann

Ja, es gibt immer mehr solche Eltern: Während sie selber nicht musizieren oder singen, lassen sie ihr dreijähriges Kind Geige spielen, weil dies doch der Gehirnentwicklung diene und damit der Durchsetzung des Zöglings auf dem globalen Arbeitsmarkt. Sie machen anstelle ihres Kindes dessen Hausaufgaben und benutzen das verräterische Wörtchen "Wir", wenn es um schulische Leistungen geht: Wir müssen noch lernen, wir haben eine Fünf kassiert, wir haben eine Zwei plus geschafft . . .

Sie verbünden sich grundsätzlich vehement mit ihren Kindern gegen Erzieher und Lehrer, auch dort, wo das Kind selbst in Verantwortung zu nehmen wäre. Sie tun alles, wirklich alles für ihre Lieben, sie räumen jede Gefahr, jedes Unwohlsein sofort aus dem Weg, sie verwehren ihren kleinen Prinzen und Prinzessinnen nichts und kontrollieren sie mindestens so engmaschig wie die NSA.

Gegen diese Tendenz in der Erziehung zieht jetzt Josef Kraus mit seinem neuen Buch "Helikopter-Eltern" zu Felde. Er greift damit den amerikanischen Ausdruck für Erwachsene auf, die ständig über ihren Kindern kreisen. Die Helikopter-Eltern haben in Zeiten elektronischer Überwachung die Metapher jener Curling parents abgelöst, die für ihre Kleinen jedes Hindernis eifrig wegfeudeln.

Mischung aus verkrampfter Frühförderung und nachgiebiger Verwöhnung

Das Buch ist eine kraftvolle Klage über die Mischung aus verkrampfter Frühförderung und nachgiebiger Verwöhnung, die sich seit einiger Zeit in Mittelschichtsfamilien breitmacht: "Dieselben Kinder, die man durch Förderprogramme gern dressiert, schont man auf der anderen Seite im Übermaß."

Auf zehn bis fünfzehn Prozent schätzt Kraus den Anteil der Elternschaft, der sich ausgeprägt so verhält. Etwa den gleichen Anteil mache das andere Extrem aus: Das sind Eltern, die sich überhaupt nicht um die Erziehung und Bildung ihrer Kinder kümmern, auch nicht auf Nachfrage. Dazwischen gebe es immer noch viel vernünftiges Maß: "Millionen von Eltern erziehen engagiert und sinnvoll." Eine "pauschale Elternschelte" sei deshalb auch "völlig unangebracht".

Dennoch drohen, so Kraus, immer mehr Kinder in der "Gluckenfalle" zu landen. Er beobachtet bei ihnen eine zunehmende Unselbstständigkeit, eine "Hilflosigkeit gepaart mit hohen Ansprüchen". Denn: "Sie verlassen sich darauf, dass die Eltern alles für sie erledigen."

Josef Kraus ist langjähriger Gymnasiallehrer, Schulpsychologe und Schulleiter sowie seit 1987 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Er hat einen bayerischen Zungenschlag, ein liberalkonservatives Weltbild, ein kantiges Gesicht und ein ebenso kantiges Selbstbewusstsein. Das macht es Menschen, die anders sozialisiert und anders gestimmt sind, ziemlich leicht, Josef Kraus als einen gestrigen Talkshow-Humanisten aus der süddeutschen Provinz und als Hardliner abzuschreiben und sich auf diese Weise seinen Einsichten zu entziehen.

"Kinder sind nicht aus Zuckerwatte"

Das Problem ist nur: Der Mann hat mit fast allem recht, was er über Schule und Erziehung sagt. Und er ist gar kein Hardliner, sondern er will, dass die Kinder "erstens mit Liebe und zweitens mit klaren Regeln" Selbstständigkeit gewinnen, ohne allzu viel hektisches Zutun, ohne eine panische Funktionalisierung aller Bildungsinhalte.

Er warnt davor, dass die Kindheit aufgefressen wird: von viel zu frühem Effizienzdenken, von Beratungsliteratur und Lern-Software, von kumpelhaft dauerpräsenten - oder am Wochenende betreuungsmäßig mal so richtig aufdrehenden - Eltern sowie von einer fortschreitenden Ausweitung der Jugend und Jugendlichkeit. Wer hingegen Jungen und Mädchen mit einem gelassenen Grundvertrauen aufwachsen lässt, der weiß dann auch: "Kinder sind nicht aus Zuckerwatte."

Bei all dem, was sich Josef Kraus als erfahrener Schulmann in diesem Buch von der Seele schreibt, ist natürlich von einigem Überschuss abzusehen - es sind auch manche nur notdürftig verallgemeinerte Schuldirektor-Klagen dabei, die nicht unmittelbar zum Thema, aber eben zum Job dazugehören. Und die Passagen, in denen der Autor kulturdeutend ins Historisch-Soziologische ausgreift, sind nicht immer die allerstärksten. Der Stil ist bewusst polemisch und mitunter etwas arg polternd und plakativ. Und doch bleibt genug Erschreckendes und Bedenkenswertes übrig, was die Lektüre von "Helikopter-Eltern" unbedingt empfehlenswert macht.

Da wird von dem Schüler berichtet, der ein auf dem Boden liegendes Papier nicht aufheben will, mit der Begründung: "Dafür sind Putzfrauen da!". Als er daraufhin zum Reinigungsdienst auf dem Schulhof verpflichtet wird, verteidigt ihn sein Vater und droht mit einer Aufsichtsbeschwerde. Da ist die "zwölfjährige Göre, die sich vom Unterricht abmeldet und den Lehrern einen Brief der Mutter unter die Nase hält: ,Ich hab' ein Casting!' " Josef Kraus sieht hier eine übermäßige Verschonung am Werk, eine unverbrüchliche Solidarität mit dem eigenen Nachwuchs, aus der sich komplementär ein "Förderwahn" in den frühen Kindheitsjahren ergibt.

Dieser zeigt sich an einer Sorge um die frühkindliche Synapsenverdrahtung, hinter der "Visionen von einem perfekten, tollen, maßgeschneiderten Designer- und Premiumkind" stehen. Es gibt heute Kinder-DVDs für das Alter von drei Monaten bis drei Jahren, die "Baby Bach" oder "Baby Einstein" heißen. Dabei ist vor pädagogischem Übereifer zu warnen: Die Frühförderung in Englisch bringt nicht viel, und wer sie genossen hat, verliert schnell den Vorsprung, wenn es beim Sprachenlernen richtig zur Sache geht.

"Ein normales Elternhaus reicht"

Auch ein Musikinstrument, das gut beherrscht werden soll, erlernen die meisten Kinder besser nicht ab vier, sondern ab sieben oder acht Jahren. Wer sein Kind nach Ergebnissen der Neuro-Forschung programmieren will, dem wird hier gesagt: "Ein normales Elternhaus mit Vorlesen, Reden, Singen, Naturbegegnung, Verlässlichkeit reicht." Diesen Satz sollte man in jeden Badezimmerspiegel eingravieren.

Der praktizierten Elternliebe - die ja stets sehr gut gemeint ist - entspringt zudem viel übertriebene Kontrolle. Josef Kraus verweist darauf, dass sich heute nur jeder zweite Grundschüler in Deutschland ohne Eltern auf den Schulweg macht, während das 1970 in Westdeutschland noch 91 Prozent der Kinder taten. Ist unser Land seitdem wirklich so viel gefährlicher geworden?

Eine Untersuchung in einer schwedischen Stadt steht exemplarisch für die Einschränkung von Freiheit, Risiko und Bewegung in der westlichen Welt: Dort hat man für das Jahr 1925 einen durchschnittlichen Mobilitätsradius der Kinder von 6,5 Kilometern ermittelt, im Jahr 2000 hingegen waren es nur noch 100 Meter. Die Abnabelung fällt so immer schwerer, ganz abgesehen davon, dass diese enge Manndeckung schlicht "zulasten der motorischen und gesundheitlichen Entwicklung der Kinder" geht, wie Kraus schreibt.

Der vielbejammerte Schulstress rühre denn auch nicht daher, dass die Schule in Deutschland so viel anstrengender geworden wäre, sondern entstehe durch Medienkonsum, Multitasking und "Zeitneurose" daheim.

Die Warnung vor der Überfürsorge ist nicht neu

Die Frage ist nun, was aus einem solchen Debattenbuch folgt. Kraus ist nicht der erste, der davor warnt, das Kind zum Projekt des elterlichen Narzissmus zu machen - der Psychiater Michael Winterhoff schrieb vor fünf Jahren den Bestseller über die "Abschaffung der Kindheit", um nur dies zu nennen.

Vieles, was Kraus moniert, ist die Folge langfristiger sozialer und psychosozialer Entwicklungen - nicht zuletzt der geringeren Kinderzahl -, denen zu widerstehen, wie er selbst schreibt, "ein Kraftakt" wäre. Soll man sein Kind sechs Kilometer in den Wald schicken, wenn dort kein anderes Kind mehr mit ihm spielt? Und gelegentlich scheint es, dass Kraus' Ratschläge eher für stabile Elternhäuser gelten, von denen es mehr geben sollte, aber immer weniger gibt.

Auch entgeht dieses Buch wie alle Erziehungskritik der Gefahr nicht, dass sich bei den Eltern, die nach innen unsicher sind und nach außen ihren Erziehungsstil verteidigen (also bei den allermeisten), beim Lesen ein Pharisäer-Effekt einstellen könnte: die Entlastung also, dass vor allem die anderen es falsch machen. Vielleicht läuft das Ganze am Ende doch nur auf die alte, vernünftige Mahnung hinaus, von keinem zu viel zu tun und nichts zu sehr?

Trotzdem ist dem Buch von Josef Kraus eine breite Leserschaft zu wünschen. Seine wichtigste Botschaft ist, dass man nicht allen strukturellen Zwängen erliegen muss, wenn es um Familie geht: Das Schicksal der Kinder liegt nicht allein in den Händen von Kultusministern oder von globalen Großkonzernen. Man kann es immer anders machen. Ohne Helikopter.

© SZ vom 28.08.2013/schä - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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