Heiraten im Leuchtturm:140 Stufen zum Himmel und ein Kapitän

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Mehr als 3500 Paare haben auf dem Leuchtturm der Insel Pellworm schon geheiratet. Dabei müssen die Brautleute hier 140 Stufen erklimmen und können höchstens sechs Gäste einladen. Dafür gibt es nach der Eheschließung noch eine Kapitänszeremonie obendrauf. Zu Besuch an einem Sehnsuchtsort.

Von Ralf Wiegand

Der Wind hat das Kommando übernommen, spielt auf dieser riesigen Flöte aus Eisen sein mürrisches Lied, es dröhnt und knarzt und pfeift, es tutet auch manchmal wie aus hundert Nebelhörnern. Alles draußen bewegt sich, eine Miniaturwelt, auf die man hinabschaut durch die kleinen Bullaugenfensterchen. Bäume biegen sich wie Pusteblumen, das Meer kräuselt sich, als würde es frieren. Auf jeder kleinen Welle tanzt die Gischt. "Die See hat ihr schönstes Kleid angezogen", sagt der Standesbeamte routiniert, als hätte er den Spruch schon öfter gemacht, immer dann halt, wenn es weht, "das aus weißer Spitze." Die Braut tupft sich mit dem Taschentuch die feuchten Augen.

Der Standesbeamte heißt Claus Stock und ist, wie die sieben Hochzeitsgäste und das unterfränkische Brautpaar Christine und Karsten, 140 Stufen hinaufgeklettert auf Deck 9 des Leuchtturms von Pellworm. Windstärke 6 bis 8, das ist ja kein Wetter für eine Insel in der Nordsee, das bisschen Brise wird einfach weggeheiratet. "Standesamt Pellworm" steht auf einer kleinen Holztafel an der runden Wand, die Welt hier ist eine Röhre.

Um 10.08 Uhr haben Braut und Bräutigam "Ja" gesagt, so wird es auch später auf der Urkunde stehen, die Kapitän Wilfried Eberhardt schon vorbereitet hat. Ein richtiges Leuchtturmhochzeitszertifikat ist das. Karsten und Christine heißen jetzt Herr Proschka und Frau Hofmann-Proschka. Sie sind die laufende Nummer 67 des Jahres 2013 und das 3517. Paar insgesamt, das sich auf den Leuchtturm getraut hat, um sich trauen zu lassen.

Eberhardt machte sich schlau

Pellworm ist nicht der einzige Leuchtturm, auf dem man heiraten kann, aber ein besonderer. Er dient noch immer als Leuchtfeuer, und nur hier gibt es nach der standesamtlichen Beurkundung der Eheschließung noch eine Kapitänszeremonie obendrauf. Wilfried Eberhardt, 73, hat sich das so ausgedacht vor 15 Jahren und dafür eine Firma gegründet. "Leuchtturm-Hochzeit" heißt sie.

Es begann mit einer einfachen Frage. Als Eberhardt noch lediglich Besuchergruppen durch den Leuchtturm führte, ihnen das 41,5 Meter hohe Bauwerk vorstellte, die Bedeutung des Leuchtfeuers für die Seefahrt erklärte, die Korridore aus buntem Licht auf der Seekarte mit dem Finger für sie nachzeichnete, da fragte ihn plötzlich ein Pärchen aus dem hessischen Groß-Gerau: Können wir hier heiraten? "So konkret hatte das bis dahin noch niemand angesprochen", sagt Eberhardt, der sich daraufhin wunschgemäß mal schlau machte. Ein gutes Jahr später kam das Pärchen wieder. Seitdem kann man hier heiraten.

Das traf einen Nerv. So eine einfache Hochzeit im Trauzimmer eines Rathauses oder im Standesamt der Heimatgemeinde genügt vielen Paaren schon lange nicht mehr. Das besondere Ereignis braucht auch noch einen besonderen Rahmen, fast so, als würde man sonst vergessen, überhaupt geheiratet zu haben, wenn es nicht in einem Heißluftballon, unter Wasser, auf der Zugspitze, beim Fallschirmspringen oder in einer Tropfsteinhöhle passiert wäre. Oder eben auf dem rot-weiß geringelten Leuchtturm von Pellworm.

Ein Segen für die Gemeinde

Für die kleine Gemeinde mitten im Watt mit ihren 1250 Einwohnern ist die aufs Heiraten übergeschwappte Ereigniskultur natürlich ein Segen. Anfangs, als die zuständigen Behörden das genehmigten, gingen alle noch von einer Welle aus, die abebben würde. "Ein, zwei Jahre, dann ist das vorbei, so dachten viele", erinnert sich Eberhardt. Heute ist die Pellwormer Hochzeit beinahe ein eigener Wirtschaftszweig.

Der Leuchtturm, dessen Hausherr die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes ist, war schon vor der Hochzeitsnummer eine Einnahmequelle. Seit Mitte der Neunzigerjahre bis heute sind mehr als 52 000 Menschen zu bezahlten Besichtigungen durch die 1907 fertiggestellte Konstruktion geklettert, außerdem nutzen die großen Mobilfunkanbieter den Turm für ihre Antennen, wofür sie Miete bezahlen. Auf einigen Decks stehen graue Kästen, Schaltzentralen fürs Netz im Watt.

Vor allem aber ist der Turm lebenswichtig für das Weltnaturerbe Wattenmeer, das Pellworm umgibt. 42 Kilometer schießt die Lichtkanone ihre Signale ins deutsche Hoheitsgewässer hinaus und leitet die Schiffe sicher durch das enge Fahrwasser im Schlick. Die haben zwar alle GPS und Radar, aber was, wenn das mal ausfällt? Wenn die Signale gestört werden? Watt ist ein sensibles Ökosystem, "schon 100 Liter Öl, die hier auslaufen, wären für uns eine große Katastrophe", sagt Eberhardt. Der Leuchtturm ist das Sicherheitsnetz für das Wattenmeer, und er ist Pellworms Markenzeichen. Sonst übersähe man die Insel vielleicht ganz, denn wer an die nordfriesischen Inseln denkt, der kommt auf Sylt, Amrum, vielleicht Föhr. Pellworm? Kennen viele gar nicht, obwohl es gar nicht so klein ist mit seinen 80 Kilometern Straßennetz, der alten und der neuen Kirche und dem Inselkino.

Nicht zuletzt aber durch den Geschäftssinn Wilfried Eberhardts, der früher als Kapitän auf großer Fahrt die Weltmeere befahren hat, profitieren jetzt fast alle auf dem Eiland von ihrem Wahrzeichen, dem Leuchtfeuer. Es bringt Leute auf die Insel und Geld.

Die Inselfähre hat rund um die Hochzeiten mehr als 4460 Autos nach Pellworm befördert, neun Motorräder und drei Busse. Mehr als 69 000 Übernachtungen stehen in Zusammenhang mit dem Ehe-Event. Fünf Paare kamen im Privatflugzeug, eines im Hubschrauber. Die Hochzeitsgesellschaften feiern in den Lokalen der Insel, viele lassen sich bei der ortsansässigen Goldschmiedin - eine von nur sechs Pellwormerinnen, die auf dem Leuchtturm geheiratet haben, übrigens den Rettungssanitäter der Insel - ihre Trauringe fertigen, mit graviertem Leuchtturm. Immer wieder bestellt Eberhardt bei einer Firma vom Festland dazu neue Flaggen für den Hochzeitstisch; jede Nation und jedes Bundesland bekommen die passende Standarte. China und Chile, Bayern und Brandenburg - von überallher verheiraten sich Paare auf Pellworm. Und viele kommen später als Stammgäste immer wieder zurück.

Aber warum bloß? Man kann es ja auch beschwerlich finden - er im Slim-Fit-Anzug, sie mit eng geschnürter Korsage -, 140 schmale Stufen immer im Kreis hinaufzuklettern, dazu die schnaufenden Eltern im Schlepptau, nicht wenige fluchend ob der Schnapsidee der lieben Kinder. Dann muss man auch noch die halbe Verwandtschaft vor den Kopf stoßen, weil nur höchstens acht Gäste in dem kreisrunden, maritim dekorierten Trauzimmer in luftiger Höhe Platz finden - und von denen sitzt auch noch einer genau unter der Schiffsglocke, die Wilfried Eberhardt anschlägt, als Zeichen für das Ende des einen und den Beginn eines neuen Lebensabschnitts. So eine Glocke ist sehr, sehr laut, "acht Glasen", der Wachwechsel der Seeleute, können schmerzhaft sein.

Sicherheit und Geborgenheit, Abschied und Wiederkehr

Also warum? "Der Leuchtturm ist ein Sehnsuchtsort", sagt Eberhardt, "ein Bauwerk mit hoher Symbolkraft." Er steht für Sicherheit und Geborgenheit, für Abschied und Wiederkehr, für Fernweh und Zuverlässigkeit. Als Heiratsort zieht er erstaunlicherweise oft Paare mit bewegten Leben an, solche, die nicht zum ersten Mal heiraten oder die es heimlich tun, ganz ohne Gäste. Nur Kapitän Eberhardt war bei allen 3517 Trauungen dabei, 560.000 Stufen ist er dafür hinaufgestiegen, "17 Touren auf den Mount Everest sind das", sagt er, und jede nutzt er dazu, ein Paar auf große Fahrt zu schicken.

Auch Christine und Karsten aus Niedernberg haben schon ihre Geschichten gehabt, ehe sie sich kennenlernten; sie haben sie Kapitän Wilfried Eberhardt vorher in vielen Gesprächen erzählt; er deutet sie in seiner Traurede nur an. "Ich habe immer gesagt, wenn ich noch einmal heirate, dann nur auf einem Leuchtturm", sagt die Braut. Ihr Mann hat ihr schon ein Modell von so einem Turm gebaut, es steht daheim in Unterfranken.

Geschichte wie aus einem Seemannslied

Dass Wilfried Eberhardt in solchen Momenten die richtigen Worte findet, mag an seiner eigenen Geschichte liegen, einer Geschichte, die ihn eigentlich sogar selbst zu so einem Leuchtturmhochzeitskandidaten machen würde. Es ist eine rührende Geschichte. Er hatte einst eine "Liebe seines Lebens", wie er sie nennt, Barbara, eine Frau, mit der er sich in Kiel verlobt hat, im Yachtklub, ohne großes Aufsehen, weil die liebe Verwandtschaft die Verbindung nicht duldete. Das war 1957. Die Beziehung ging, so sagt jene Barbara heute, "unter subtiler Einflussnahme" der Umgebung auseinander; sie zog ins Westfälische, heiratete, bekam Kinder und machte Karriere. Er fuhr zur See, bereiste Länder, die es so heute gar nicht mehr gibt, Ceylon, die Sowjetunion, Ost- und Westpakistan. Nach Dubai kam er, da stand dort nichts als ein kleiner weißer Palast. Auch er heiratete, wurde Vater. Barbara, die Liebe seines Lebens? "36 Jahre haben wir uns nicht gesehen", sagt Wilfried Eberhardt.

Und dann, als sein Vater starb, schrieb sie ihm einen Brief, sie trafen sich wieder, sie verwitwet, er geschieden. Gemeinsam suchten sie sich Pellworm aus, ein reetgedecktes Haus auf dem Mitteldeich, und da leben sie, als glückliches Paar wie aus dem Insel-Bilderbuch mit einer Geschichte wie aus einem Seemannslied.

Geheiratet haben die beiden nie.

© SZ vom 25.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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