Guinness-Rekord:Kleiner Mann, was nun?

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Edward Niño war 40 Tage lang der kleinste Mensch der Welt. Von dem, was er sich davon erhoffte, ist nichts wahr geworden. Inzwischen ist er in Vergessenheit geraten.

Camilo Jiménez

Eigentlich hatte sich Edward Niño mit seinem Schicksal abgefunden. Er hatte akzeptiert, wie er auf diese Welt gekommen war - akzeptiert, als Kleinwüchsiger in einem armen Viertel im Süden Bogotás zu leben. Eigentlich hätte man ihn nie kennenlernen, ihn in Ruhe lassen sollen. Denn eine solche Niederlage, wie er sie jetzt zu spüren bekommt, hat er nicht verdient. 40 Tage lang war er der kleinste Mensch der Welt - und von dem, was er sich davon erhoffte, ist nichts wahr geworden. Edward Niño ist in Vergessenheit geraten.

40 Tage lang war Edward Niño Hernandez der kleinste Mensch der Welt. Mittlerweile erinnert sich kaum mehr jemand an den Kolumbianer. (Foto: AFP)

Unternehmer, Manager und Journalisten profitierten vom Schicksal des 24-jährigen Kolumbianers. Nun, da Guinness rasch einen anderen gefunden hat, der 2,2 Zentimeter weniger misst und die Kassen womöglich weiter füllen wird, bleibt Edward Niño als Verlierer zurück. Wie er sich fühlt? Er will heute nicht ans Telefon gehen, aber seine Mutter, Noemí Hernández, schon: "Ich bereue es nicht, erlaubt zu haben, dass er sich dermaßen exponiert", sagt sie. "Aber wir sind zutiefst enttäuscht."

Edward Niño wurde 1986 geboren, die Ärzte gaben ihm nur wenige Jahre. Das war eine Botschaft, die der Mutter nichts brachte und die sie deshalb ignorierte, so wie sie jetzt die Stimmen derjenigen ignoriert, die ihr vorwerfen, ihren Sohn ausgebeutet zu haben. "Ich habe immer für ihn gekämpft - den Guinness-Rekord zu erreichen, war ein Projekt, das wir nur mit Edwards Erlaubnis unternommen haben", sagt sie.

Alles begann im Jahr 2007. Ein junger Reporter aus Bogotá klopfte an der Haustür der Niños und erkundigte sich, ob der womöglich kleinste Mensch Kolumbiens hier wohne. Geschichten über einen Mann, der nicht größer als ein Kleinkind sei, in einer Disco tanze und dafür Geld bekomme, kursierten schon seit Monaten in der Regenbogen-Presse. Das sei feiner Stoff für eine Reportage, sagte der Journalist. Ob er Edward besuchen dürfe?

Die Familie Niño hätte dem Mann die Tür vor der Nase zuschlagen und so die Tragödie abwenden können. Doch warum? Die lange Geschichte, die im Juni 2007 in den Seiten eines Magazins erschien, brachte plötzlich den ersten Ruhm. Edward Niño trat im Fernsehen auf und die Leute in Bosa, seinem Viertel in Bogotá, respektierten ihn ein bisschen mehr. "Wir dachten, wir könnten irgendetwas daraus machen", sagt Noemí.

Das heißt mit anderen Worten, dass ein gewisses Kalkül da war, die zweifelhafte Annahme, dass Respekt und Anerkennung zusammen mit dem Ruhm wachsen können. Bald erkundigte sich die Familie über die Möglichkeiten, die Edward hatte, um noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der Guinness-Rekord war natürlich eine Option, sie besuchten die Website, die Anmeldung ging schnell, eine Mail wurde verschickt. Das Schicksal spielte mit: Der kleinste Mensch der Welt, He Pingping, war im März während der Dreharbeiten für eine Fernsehsendung in Italien an einem Herzinfarkt gestorben, und Rekord-Scouts waren tatsächlich auf der Suche nach einem Nachfolger.

Kurz nach der Anmeldung meldete sich der Guinness-Schiedsrichter Carlos Martínez, ein Spanier, und kam nach Bogotá. Der fremde Mann maß den 70-Zentimeter großen Edward und versprach 1000 Dollar Preisgeld, so Noemí. Am 6. September 2010 kamen die Guinness-Leute wieder, mit einem Zertifikat und der Nachricht, Edward sei nun der kleinste Mensch der Welt.

Vom Schicksal des 24-Jährigen profitierten Unternehmer, Manager und Journalisten. Nur seine Wünsche fanden nirgends Beachtung. (Foto: AFP)

Bilder von Edward auf einem Tisch tanzend, mit einer Sonnenbrille auf einer traurigen Straße seines Viertels stehend, von ihm zu Hause mit seinem Bruder spielend und sogar ein Bild auf dem Schoß des kolumbianischen Präsidenten (eine Schande, die Edward lächelnd über sich ergehen ließ, da der Präsident ihm wirklich hätte helfen können) gingen um die Welt. Und obwohl der Spanier verschwand und mit ihm das 1000-Dollar-Versprechen, war plötzlich der Medienwirbel so überwältigend, dass es die Niños wenig kümmerte, wem und wem nicht zu vertrauen war.

Reporter sicherten finanzielle Hilfe zu, versprochene Spenden-Konten wurden nie eröffnet. Dafür blühte der Handel mit Bildern und O-Tönen von Edward. "Ein Journalist kam her, bat uns um Hilfe für seine Arbeit, machte Fotos und verkaufte sie dann sehr teuer, das Geld behielt er ganz für sich, ich konnte es nicht fassen", sagt Noemí.

Schon am Tag nach der Auszeichnung kam ein Dutzend Vertreter der wichtigsten Medien des Landes, um ihn zu besuchen. Edward, der schnell müde wird, schlecht sieht und Schwierigkeiten beim Reden hat, musste teils mehrere Interviews gleichzeitig führen. Er tanzte vor den Kameras, posierte mit seinem Hund; der Süddeutschen Zeitung sagte er in einem Interview: "Ich bin müde, aber das macht nichts." Mit den Worten jedoch überspielte er seine Erschöpfung, die ihn tatsächlich bereits gesundheitlich beeinträchtigte.

Das Blitzen der Kameras verschlimmerte seinen grauen Star. Dass Edward für alle Anstrengungen einen Preis bezahlen müsste, wurde der Familie langsam deutlich, doch die Mühe würde sich lohnen, so glaubte man. Edward, der immer an Depressionen gelitten hatte, geriet immer mehr in Gefahr, zugrunde zu gehen.

Und so kam es dann. Der Medienwirbel ließ ein Haus voller Hoffnungen zurück, die nun verschwunden sind. Nur 40 Tage lang war Edward der kleinste Mensch der Welt. Der Nepalese Khagendra Thapa Magar, der ein bisschen kleiner als Edward ist, feierte am 14. Oktober seine Volljährigkeit und eroberte den Platz, um den auch er gekämpft hatte und mit dem er nun ebenso große Hoffnungen verknüpft. Edward konnte nicht mehr operiert werden. Er bekam immerhin eine Mitgliedschaft bei der Krankenkasse, die ihm jahrelang verweigert worden war, und konnte nach Argentinien reisen. Außerdem hat er nun einen neuen Laptop und vier neue CDs - die hat ihm der Präsident geschenkt.

© SZ vom 17.11.2010/holl - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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