In der Flüchtlingsdebatte tauchen Stereotype wieder ziemlich deutlich auf. Macht Deutschland da gerade einen Schritt zurück?
Deutschland ist extrem gespalten und polarisiert. Auf der einen Seite gibt es Debatten, die den Eindruck erwecken, es hätte die Diskussionen der vergangenen 20 Jahre nicht gegeben. Gleichzeitig haben wir in den Medien aber viele fortschrittliche und progressive Stimmen, die Menschen mit Migrationshintergrund nicht auf bestimmte Rollen festlegen wollen.
Ging der mediale Diskurs der vergangenen Jahre am Mainstream vorbei?
Das glaube ich nicht. Ich denke erstens nicht, dass es den einen Mainstream in der Debatte überhaupt gibt. Es gibt viele wütende, hasserfüllte Menschen, aber auch sehr viele progressive, tolerante. Es ist allerdings häufig so, dass der hasserfüllte Teil der Bevölkerung sehr viel lauter ist als der andere. Wir haben jahrelang den Fehler gemacht, auf die hasserfüllten Menschen, den wütenden Mainstream zu reagieren, anstatt selbst die Debatte voranzutreiben.
Inwiefern?
Wir haben über destruktive und populistische Fragen diskutiert wie: Gehört der Islam zu Deutschland? Sind Muslime weniger gebildet als andere Religionen und Gemeinschaften? Ist der Islam eine Religion der Gewalt? Weil diese Fragen aus dem wütenden Mainstream kamen. Meinem Gefühl nach steht der stillere, offene Teil der Gesellschaft erst allmählich auf und bringt sich ein. Das hat man zum Beispiel nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo gesehen und bei den Gegendemonstrationen zu Pegida.
Welche Debatte sollte dieser stillere Teil der Gesellschaft voranbringen?
Wir müssen über Leitkultur sprechen. Bis heute bekommen viele liberal-progressive Menschen eine Gänsehaut, wenn sie den Begriff Leitkultur überhaupt hören. Er ist für sie - berechtigterweise - verbunden mit Abgrenzung, Nationalismus. Dabei finde ich, dass eine Leitkulturdebatte positiv sein kann. Wenn wir zum Beispiel ein für allemal gemeinsam festhalten, dass es ausreichen muss, sich an das Grundgesetz zu halten, um Deutsche oder Deutscher zu sein. Denn darin sind unsere Werte schließlich festgehalten. Bisher haben wir hingegen Debatten, die den Eindruck erwecken, als gäbe es einen ungeschriebenen Wertekanon in Deutschland. Und alles, was nicht herkunftsdeutsch ist, widerspricht ihm automatisch.
Wie äußert sich das gegenüber Flüchtlingen?
Die Gesellschaft erwartet von Flüchtlingen, dass sie Übermenschen sind. Sie zeichnet ein idealisiertes Bild von Deutschland, dem die Geflüchteten entsprechen sollen - obwohl es die meisten Deutschen nicht tun. Manche Geflüchtete sind freundlich, gesprächig, gebildet. Manche aber nicht. Wir dürfen nicht sagen: Wenn Flüchtlinge allen Idealen entsprechen, dann sind sie willkommen. Wenn sie aber grummelige, wortkarge Männer ohne Hochschulabschluss sind, wollen wir sie nicht. Dabei ist doch Deutschland reich bestückt mit grummeligen, dumpfbackigen Männern. Wie kommen wir darauf, dass Geflüchtete einem anderen Ideal entsprechen müssen?
Ganz ähnlich ist es für Menschen mit Migrationshintergrund, die schon länger hier leben. Sie müssen akzentfrei Deutsch sprechen, studieren, sich gesellschaftlich engagieren, immer freundlich und fleißig sein, gewissermaßen Überdeutsche werden. Und trotzdem werden sie oft nicht als Deutsche gesehen, bleiben "Fremde."
Was wäre ein besserer Umgang?
Zunächst einmal muss uns in Deutschland klar werden, dass auch wir das Ideal einer Gesellschaft, wie wir sie zeichnen, noch lange nicht erreicht haben. Wir müssen uns unsere Werte gegenseitig beibringen, nicht nur den Geflüchteten.
Außerdem dürfen wir auf keinen Fall anfangen, unser generelles Verhältnis zu Geflüchteten von einzelnen Ereignissen abhängig zu machen. Zum Beispiel, ob einer der Terroristen von Paris getarnt als syrischer Flüchtling nach Frankreich kam. Oder wenn ein Flüchtling sich sexistisch verhält. Unseren Umgang mit Geflüchteten sollten wir nicht ständig neu austarieren, aufgrund einzelner Vorfälle. Er darf nicht auf wackeligem Boden stehen. Unser Umgang mit Geflüchteten sollte auf Idealen basieren, die wir beschützen.