Wenn die Hebamme Sigrid Mohr-Müller ein Neugeborenes in ihrem Landkreis Neunkirchen in der Nähe von Saarbrücken besucht, kann es sein, dass sie erst einmal über Videospiele plaudert. Nicht mit dem Baby natürlich, und auch nicht mit dessen Mutter. Sie unterhält sich mit dem Vater.
Der sitzt vielleicht gerade an der Spielekonsole, weshalb Sigrid Mohr-Müller seine Aufmerksamkeit mit dem Thema zu wecken versucht, das ihn im Moment beschäftigt. Als Familienhebamme kümmert sie sich nicht nur um die klassische Nachsorge, sondern hat die gesamte Familie im Blick - eben auch die Väter.
Marc Schulte wiederum bietet "Strategieberatung" an. Er ist aber nicht etwa Anlage-Consultant, Management-Berater oder PR-Spezialist, sondern Sozialpädagoge. Als einer der Leiter des Väterzentrums Berlin hat er im Laufe der Jahre gelernt, worauf es ankommt, wenn man Männern mit Kindern helfen will: Keinesfalls Begriffe verwenden, die nach Problemen klingen, sondern lösungsorientiert arbeiten.
Deshalb "Strategieberatung" statt "Psychosoziale Beratung" - was eigentlich die korrekte Bezeichnung dafür wäre, was der Sozialarbeiter dort macht: traurigen, wütenden oder verzweifelten Vätern in Trennung zur Seite stehen.
Es gibt in Deutschland viele Programme für Familien, die Unterstützung brauchen - für Mütter und für Kinder. Aber Väter als Zielgruppe für Sozialarbeit? Das ist neu. Papas und ihre Bedürfnisse sind ganz offensichtlich weiße Flecken auf der Landkarte der Familienbildung.
Und Väter-Experten wie Sigrid Mohr-Müller und Marc Schulte tasten sich als Pioniere auf unbekanntes Terrain vor. Denn die meisten Hilfen sind nach wie vor auf die primäre Bezugsperson des Kindes zugeschnitten - in der Regel die Mutter. Und das, obwohl viel dafür spricht, dass sich der Erfolg von Hilfsangeboten durch die Beteiligung von Vätern verbessern könnte.
In Zeiten, in denen unablässig über Gleichberechtigung diskutiert wird, ist das erstaunlich. Sind wir nicht eigentlich schon weiter, als im Mann immer noch den Ernährer zu sehen, der das Geld ranschafft, während die Frau zu Hause für den Nachwuchs zuständig ist und deswegen automatisch als ideale Ansprechpartnerin für Sozialarbeiter gilt? Andererseits: Wer wird angerufen, wenn in der Kita ein Kind krank wird? In vermutlich neun von zehn Fällen immer noch die Mutter.
Väter als neue Zielgruppe
Auch Väter in Elternzeit sind nach wie vor in der Minderheit, auch wenn ihre Anzahl immerhin zunimmt: Sie stieg von 7 Prozent im Jahr 2007 auf aktuell 34 Prozent der Anspruchsberechtigten, wobei die Mehrheit der Männer nur zwei Monate lang zu Hause beim Kind bleibt.
So gesehen spiegelt sich in der Sozialarbeit vermutlich schlicht der generelle Entwicklungsstand der Gesellschaft: Man ist sich der Problematik veralteter Rollenbilder durchaus bewusst und applaudiert begeistert, wenn moderne Väter die Zubereitung eines Pastinaken-Kürbisbreis genauso leidenschaftlich diskutieren wie den Tabellenstand der Bundesliga. Aber was zu tun ist, damit dieser Zustand eines Tages normal wird und nicht mehr als löbliche Ausnahme beklatscht werden muss, darüber herrscht Ratlosigkeit.
"In der Familien- und Jugendhilfe gibt es generell keine Tradition, Väter einzubinden", sagt der Psychologe Andreas Eickhorst, der über "Vatererleben" promoviert hat und als wissenschaftlicher Referent am Nationalen Zentrum für Frühe Hilfen am Deutschen Jugendinstitut tätig ist. Da sich statistisch gesehen in problembelasteten Familien - den Adressaten der sozialen Arbeit - eher die Mütter für die Kinder zuständig fühlten, wende man sich eben auch eher an sie.
"Wenn es ums Kindeswohl geht und man mit knappen Ressourcen schnell handeln muss, ist dieser einfache Weg sicher richtig", findet der Psychologe. Er gibt allerdings zu bedenken: "Väter sollten generell nicht als Anhängsel oder bloßer Unterstützer der Mutter behandelt werden, sondern als gleichberechtigte Bezugsperson."
Damit hapert es offensichtlich. Auch wenn längst wissenschaftlich belegt ist, dass Väter mit dem Nachwuchs zwar anders, aber dennoch genauso kompetent umgehen wie Mütter. Auch wenn eine amerikanische Studie zeigte, dass JugendhilfeMaßnahmen hinsichtlich Sicherheit, Beziehungsstabilität und Förderung des Kindes bis zu 40 Prozent erfolgreicher waren, wenn beide Elternteile beteiligt wurden.
Das Problem: "Es gibt bei uns schlicht keine Konzepte, wie man Väter sinnvoll einbinden kann", sagt Andreas Eickhorst. Die "Frühen Hilfen" etwa, präventive Maßnahmen, die das Risiko der Kindeswohl-Gefährdung schon im Babyalter minimieren sollen, existieren erst seit relativ kurzer Zeit.
2007 starteten erste Modellprojekte, 2012 wurde die Bundesinitiative Frühe Hilfen gegründet. "Natürlich hat man sich erst einmal um die grundlegenden Dinge gekümmert wie die Frage, wie man überhaupt an betroffene Familien herankommt", sagt Andreas Eickhorst. "Inzwischen hat man eine gewisse Routine und besinnt sich auf diejenigen, die bisher untergegangen sind, etwa die Väter."
Doch nach wie vor müssen sich die Fachkräfte auf ihr Bauchgefühl verlassen, wenn sie versuchen wollen, die Männer anzusprechen. Und wenn sie es nicht wollen - weil sie insgeheim der Meinung sind, Mütter können generell besser mit Kindern, oder weil sie befürchten, dass die Männer aggressiv reagieren könnten - dann passiert eben auch nichts. Entsprechende Leitfäden oder Fortbildungen gibt es nicht.
Sigrid Mohr-Müller hat deshalb ihre eigene Strategie entwickelt, auf Väter zuzugehen. "Sie sind eine wichtige Säule im Familienleben, also überlege ich, wie ich eine Beziehung zu ihnen aufbauen kann", sagt die resolute 50-Jährige. "Es ist wichtig, dass die Männer merken, dass ich nicht nur da bin, um das Baby zu streicheln."
In ihren dreißig Berufsjahren hat sie beobachtet, dass die Männer in der Erziehung zunehmend präsenter sind: "Das war ein schleichender Prozess, aber einer, der sich durch alle Milieus zieht." Das soll nicht heißen, dass es nicht immer noch Väter gibt, die nicht wickeln und die ihr Baby niemals baden würden, aber in der Mehrheit seien die Väter sogar dankbar, wenn die Hebamme sie "sanft anstupse" - genau wie die Mütter, die sich über diese willkommene Entlastung freuen.
Natürlich gibt es manchmal auch gute Gründe, Väter außen vor zu lassen. Zum Beispiel, wenn sie potenziell gewalttätig sind oder die Beziehung der Eltern so viele Konflikte birgt, dass es zum Wohle des Kindes ratsam scheint, den Mann rauszuhalten - zumindest so lange, bis er sich bereit erklärt, sein Verhalten zu ändern. Eine Gratwanderung, denn gerade bei solchen Männern kann es andererseits sinnvoll sein, sie im Auge zu behalten, um einschätzen zu können, wie hoch das Risiko ist, dass sie ihr Kind misshandeln.
Was müsste sich also ändern? Der Vaterforscher Andreas Eickhorst muss nicht lange nachdenken: "Wir brauchen eine völlig neue Sozialarbeiter-Generation." Denn tatsächlich spielten Väterbelange in den entsprechenden Studiengängen bis heute kaum eine Rolle. Außerdem sei das auch eine Frage des Alters: "Wenn die Sozialarbeiter selbst moderne Väter sind, gehen sie ganz anders da ran als jemand, der kurz vor der Rente steht und tradierte Rollenbilder im Kopf hat."
Aber auch die Ansprache an die Väter muss sich seiner Meinung nach ändern. "Solange auf einem Flyer für eine Eltern-Kind-Kur auf lediglich einem von zehn Fotos ein Mann zu sehen ist, und das ist der Fitnesstrainer, der den Mamis Turnübungen zeigt, dann fühlen sich Männer nicht angesprochen", sagt der Psychologe. Man müsse es schon wirklich ernst meinen und nicht nur irgendwas mit Vätern anbieten, weil es dem Zeitgeist entspricht und sich gut im Programm macht.
"Männer nehmen sofort eine Abwehrhaltung ein, wenn sie das Gefühl haben, nicht gemeint zu sein," hat der Sozialpädagoge Marc Schulte beobachtet. Was auch nicht funktioniert: sie von vornherein im typischen Psycho-Jargon anzureden, nach dem Motto: Du, lass uns mal dein Rollenbild reflektieren. "Das verschreckt sie", weiß Marc Schulte, "Männer sind da wie scheue Rehe."
In seinem Väterzentrum im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg gibt es auch ein Papa-Café. Dort treffen sich Männer in Elternzeit, um sich bei Latte Macchiato und Kuchen über den Nachwuchs auszutauschen. Die Themen, hat Marc Schulte beobachtet, seien dann auch nicht anders als bei Müttern: Schläft die Kleine durch? Habt ihr schon einen Kitaplatz? Wie klappt es mit dem Babybrei?
Seitdem in mehreren großen Zeitungen und Magazinen über die Einrichtung berichtet wurde wie über eine bisher unbekannte Insel, fühlten sich die Männer allerdings wie exotische Tiere, erzählt der Sozialpädagoge. Und fügt hinzu: "Der Medienhype steht in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Unterstützung, die wir von Seiten des Familienministeriums bekommen."
Väter sind also nicht grundsätzlich beratungsresistent. Es ist nur nicht ganz einfach, sie zum Mitmachen zu bewegen - oft fehlen dafür schlicht die Erfahrung und die Mittel. Doch wenn man den richtigen Dreh raushat, erweisen sie sich mitunter als verlässlichere Partner als die Mütter. Zu diesem Schluss kam zumindest eine Studie zur Integration professioneller Hilfe in den Familienalltag schon im Jahr 1988.
In neuerer Zeit greift man auch gerne mal zu unkonventionellen Mitteln: So gelang es Sozialarbeitern in Großbritannien, die Beteiligung von Vätern an Elternprogrammen von 10 auf 15 Prozent zu steigern - indem sie die Teilnehmer zuvor in Pubs und Wettbüros rekrutiert hatten.