Deutscher Alltag:Norwegian Wood

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Als der Song "Norwegian Wood" noch ganz frisch war: Paul McCartney und John Lennon 1966 im Circus Krone in München. (Foto: Gerhard Rauchwetter/dpa)

Schöne neue Arbeitswelt: In München gibt es jetzt ein erdnahes Kolosseum für zu große Playmobilmännchen - gemacht aus norwegischem Holz. Das hätte John Lennon sicher gefallen.

Von Kurt Kister

Ich bin schon lange der Meinung, dass Haruki Murakami den Literaturnobelpreis verdient hat. Am 12. Januar ist er 75 geworden, was, siehe auch die Preisverleihungsalter von Peter Handke, Annie Ernaux oder Bob Dylan, der Jury nicht zu jugendlich und damit passend erscheinen sollte. (Jon Fosse, Preisträger 2023, ist nur 64, also ein Kind nach Nobelpreismaßstäben.) Murakami schreibt wunderbare Bücher, die meistens in Japan spielen, aber in den Seelen sehr vieler Babyboomer - und durchaus auch Jüngerer - weltweit klingen. Seine Erzählung "Naokos Lächeln" zum Beispiel ist eine zeitlose, melancholische Geschichte der Fährnisse, die sich ergeben, wenn man torn between two lovers ist, zerrissen zwischen zwei Menschen, die man beide liebt.

Im japanischen Original heißt die Erzählung "Noruwei no Mori", was wiederum eine Übersetzung des englischen "Norwegian Wood" ist. Ja, es ist eine Anspielung auf den gleichnamigen Song der Beatles von 1965, in dem John Lennon singt, wie es einem erging, als der eine Frau nach Hause begleitete, deren Wohnung hell möbliert war, eben mit norwegischem Holz. Man redete bis zwei Uhr, trank Wein, und dann sagte die Frau, sie müsse am Morgen früh raus, "she told me she worked in the morning and started to laugh". Sie lachte auch deswegen, weil sie den Kerl ins Badezimmer schickte, wo er in der Wanne zu schlafen hatte. Nix ging. Murakamis Protagonist hört im Flugzeug diesen Song und erinnert sich an seinen schwierigen fling mit den zwei Frauen.

Wer Krimis liest oder schaut, kennt den uralten Spruch, dass es den Täter gelegentlich an den Ort der Tat zurückzieht. So war es bei mir auch neulich, weil ich nach Monaten der Absenz wieder einmal den Tower of Color, ToC, den Schwarzen Turm am Rande Münchens betrat, in dem der Verlag, vor allem die Geschäftsleitung, sich immer noch mehr oder weniger erfolgreich darum bemüht, die Herstellung der Süddeutschen Zeitung nicht allzu sehr zu behindern. Ich habe mit Pandemie-Unterbrechungen 15 Jahre im ToC zugebracht, was dem Gebäude weniger geschadet hat als mir. Als mittlerweile freigängerischer Gelegenheitsautorrentner gehört der SZ-Turm für mich zu einer Vergangenheit, die manchmal noch in die Gegenwart hinüberlappt. Und hin und wieder treffe ich dann in ebendieser Überlappungszone Menschen, zu deren Zukunft im weiteren Sinne der Turm gehört, aber nicht ich.

Nach meinem jüngsten Besuch summte ich im Aufzug "Norwegian Wood". Weil nämlich nichts so gut ist, dass es nicht erneuert werden könnte, gibt es im Turm jetzt einen neuen Konferenzraum. Der Konferenzraum, in breve: die Konferenz, war früher vielleicht nicht das Allerheiligste, aber doch manchmal so etwas wie die Agora, der Versammlungsplatz des kurzzeitig materialisierten Geistes der Zeitung. Hin und wieder kamen bedeutende Menschen zu Besuch. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass mal Königin Beatrix der Niederlande in unserer Konferenz zu Gast war, Bundeskanzler, Ministerinnen und Vorstandschefs sowieso. Mit manchen führte man artige Unterhaltungen, anderen wurde vorgeworfen, sie hätten kein christliches Menschenbild oder seien sonst wie eigentlich unerträglich. Solche Konferenzen waren immer gerammelt voll, die Stühle am langen Tisch standen eng, die Leute lehnten an den Wänden, und als Chefredakteur musste man moderieren, kalmieren und auch noch witzig sein, was selten so richtig gelang. Ach ja, die Konferenz.

In modernen Unternehmen gehört das Büro allen, also niemand im Speziellen

Die neue Konferenz aber ist ein Ausdruck der neuen Bürokultur, nicht nur in der SZ. Das new office als solches ist austauschbar, gehört niemandem, sondern allen, und man braucht es eigentlich nicht mehr, es sei denn, die Wohnung ist zu klein, weil man in einer teuren Stadt lebt. Heimat soll das Büro schon gar nicht mehr sein, weil Heimat schließlich das Home-Office ist. Bilder an der Wand des Büros oder Bücherregale sind so was von 20. Jahrhundert. Eigene Büros haben nur noch Statusspießer; Bücher und Akten sind überflüssig, weil alles digital im Laptop wohnt. Büros muss man transformieren, irgendwie into the great wide open, wie es mal in einem Song von Tom Petty hieß. Und Tom Petty ist auch schon tot.

Die neue Konferenz der SZ besteht aus Hellholzmöbeln, die "komplett modular" sind, wie mir ein Verantwortlicher untreuherzig versicherte, und aus Norwegen stammen. Wirklich, aus Norwegen. Norwegian wood. Es sind Kästen, man kann sie stapeln, sodass übereinander zwei oder drei Sitzreihen mit bunten Kissen entstehen. Das sieht so aus wie ein erdnahes Kolosseum für zu große Playmobilmännchen m/w/d. Man kann natürlich Rollen dranmachen. Einen Tisch oder gar Stühle gibt es in der neuen Konferenz nicht mehr, was John Lennon schon vorausgesehen hat: she asked me to stay / and she told me to sit anywhere / so I looked around / and I noticed there wasn't a chair. Auf meine spießige Frage, was denn sei, wenn einer seine schmutzigen Sohlen auf die untere Sitzfläche stelle, wurde mir beschieden: Ist alles abwischbar.

Die Dinge ändern sich. Königin Beatrix hat 2013 abgedankt, Franz Beckenbauer ist tot, und wahrscheinlich fühlt sich der aus dem Home-Office materialisierte neue Geist der Zeitung auch in einer kindergartenmäßig möblierten Konferenz wohl. Dennoch würde ich gerne mal erleben, wie es wäre, wenn König Willem-Alexander beim Besuch der SZ auf so einem komplett modularen, abwisch- und rollbaren Holzkasten sitzt.

Ach nein, ich möchte es doch nicht erleben.

Kurt Kister schreibt über die Wichtigkeit des Unwichtigen. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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