Berlin:Boulevard der zerbrochenen Träume

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Die Friedrichstraße sollte zur Berliner Fifth Avenue werden, war aber lange eine trostlose Einkaufsstraße. Jetzt soll eine verkehrsberuhigte Zone den alten Glanz wiederbringen.

Von Verena Mayer

Ragnhild Sørensen sieht das alles schon vor sich: eine Straße ohne Autos und Parkplätze, dafür mit Bäumen und Bänken. Sørensen arbeitet für den Verein "Changing Cities", in dem Stadtplanerinnen und Architekten Ideen entwickeln, wie man Innenstädte autofrei bekommt. Wie die Berliner Friedrichstraße, von der Sørensen nun einen Plan hervorzieht. Man sieht darauf eine schmale Spur für Fahrradfahrer und Rettungsautos in der Mitte und sonst nur Platz für Fußgänger. Wenn es nach Sørensen geht, spazieren die Menschen hier nicht nur durch und gucken sich die Läden an, sondern sie setzen sich auch mitten auf der Straße zusammen und halten im Schatten der Bäume ein Meeting ab.

An kaum einem Ort ist die Kluft zwischen dem, was eine Straße sein könnte, und dem, was sie ist, so groß wie an der Friedrichstraße, einer der bekanntesten Straßen im historischen Zentrum der Hauptstadt. Das zeigt sich schon an der Ecke Unter den Linden, an die Ragnhild Sørensen mit dem Fahrrad kommt. Es ist laut und dreckig, alle Augenblicke rauscht mit Karacho ein Lastwagen vorbei. Wer hier zu Fuß unterwegs ist, muss sich seinen Weg zwischen einer Baustelle für die neue U-Bahn, Lieferverkehr und hingeschmissenen E-Scootern bahnen. Es wird gedrängt und gerempelt, und wer nicht schnell genug aus dem Weg geht, bekommt auch noch ein "Dann steh halt nicht so blöd rum!" nachgeblafft.

Dabei war das hier alles einmal sehr glamourös. Anfang des 20. Jahrhunderts reihten sich Cafés und Varietés aneinander, es gab jede Menge Nachtleben, die Friedrichstraße war der Inbegriff eines Großstadtboulevards. Der Schriftsteller und Flaneur Franz Hessel, der Berlin für seine Texte abspazierte, schwärmte, dass die Friedrichstraße aussehe, als sei sie "mit einem Teppich aus Licht belegt". Auf dem sich die Frauen "wie auf Seide bewegten".

Jedes vierte Geschäft steht hier leer

Nach der Wiedervereinigung sollte die Friedrichstraße dann zu jenem Ort werden, an dem die neue Hauptstadt ihr Gesicht bekommt. Ultramoderne Gebäude mit Namen wie "Quartier 206" oder "Upper Eastside Berlin" wurden hochgezogen. Das berühmte New Yorker Architektenbüro Pei Cobb Freed & Partners war hier ebenso zugange wie der französische Stararchitekt Jean Nouvel. Er errichtete mit dem Luxuskaufhaus Galeries Lafayette eines der markantesten Gebäude der Straße, mit einer Fassade aus grünlich schimmerndem Glas und innen einem gläsernen Trichter. Die Friedrichstraße strebe danach, "die Fifth Avenue von Berlin" zu werden, schrieb 2002 dann auch der Stadtsoziologe Peter Marcuse. Marcuse glaubte zu wissen, wovon er sprach, er lebt in New York und war als Sohn des linken Theoretikers Herbert Marcuse im Berlin der goldenen Zwanzigerjahre geboren. Was Marcuse damals nicht wissen konnte: Die Friedrichstraße wurde bald zur klassischen deutschen Einkaufsstraße. In der sich Filialen von Klamottenketten, Bürogebäude, Handyläden und Coffeeshops abwechselten, und sobald es Abend wurde, war nicht mehr viel los.

Sørensen kann sich noch gut an die Zeit des Aufbruchs erinnern, ihr fiel damals der Wohnungsschlüssel in eine der Baugruben, er ist wahrscheinlich noch immer irgendwo einzementiert. Ansonsten geht es der Friedrichstraße heute wie so vielen Einkaufsmeilen im Zeitalter des Online-Shoppings. Erst zogen die Luxusboutiquen weg, dann schlossen die Einzelhändler, selbst H&M hat seine Filialen dichtgemacht. Sørensen spaziert an Läden, die mit Holz verrammelt sind, vorbei. Jedes vierte Geschäft steht leer, doppelt so viele wie im deutschen Durchschnitt. Wenn man die Fassaden hochguckt, fällt einem auf, was für prächtige Häuser es zwischendrin gibt, wie schön manche Ecke aussieht. Und wie wenig an einem ganz normalen Wochentag dann doch los ist. Sørensen sagt, eine Untersuchung der Parkplätze habe ergeben, dass die meisten Autos an der Friedrichstraße nur zwei Mal am Tag bewegt werden. "Hier kommt man nicht her, und wenn man ehrlich ist, will man hier auch nicht sein." Aus der einstigen Flaniermeile ist ein Boulevard der zerbrochenen Träume geworden.

Doch das könnte sich von Ende August an ändern. Dann soll ein Teil der Friedrichstraße autofrei werden, zumindest einige Monate lang. Mit Dutzenden Bäumen in Kübeln, Sitzgelegenheiten und Rahmenprogramm, wie man es 2019 schon mal ein paar Tage unter dem Motto "Friedrich, the Flâneur" ausprobiert hat. Damals zogen Foodtrucks und Bands durch die Gegend, es gab Workshops und Spiele, und die Leute spazierten auf der Fahrbahn herum.

Die Straße bedeutet auch 3,3 Kilometer geballte Geschichte

Autofreie Zonen sind zwar ein Lieblingsthema des rot-rot-grünen Berliner Senats, doch erst das Coronavirus treibt diese Entwicklung voran. Die Zeit der ausgestorbenen Innenstädte während des Lockdowns hat bei vielen den Sinn dafür geschärft, dass die Zentren mehr sind als seelenlose Einkaufsstraßen. Nämlich Lebensräume, die für alle da sind. In der autofreien Friedrichstraße ist dann auch keine klassische Fußgängerzone geplant, sondern eher eine Art Begegnungszone, wie es sie etwa in Wien an der Mariahilfer Straße gibt. Die einst viel befahrene Einkaufsstraße teilen sich jetzt Fußgänger und Radler, man kann dort shoppen, arbeiten und essen, aber auch einfach nur im Schatten der Bäume Zeit verbringen. Eine Straße, die großstädtisch und erholsam zugleich ist.

An der Friedrichstraße würde sich das Flanieren schon allein deshalb lohnen, weil man auf den 3,3 Kilometer der geballten Geschichte des 20. Jahrhunderts begegnet. Da ist der Tränenpalast, zu Mauerzeiten jenes Gebäude, an dem sich die Ostberliner von ihrem Besuch aus dem Westen verabschieden musste. Dann der Bahnhof Friedrichstraße, der historisch schon einiges war - Anlaufstelle für Leute, die nach Berlin wollten (auch Emil aus Erich Kästners Roman "Emil und die Detektive" sollte hier ankommen), deutsch-deutscher Grenzübergang samt Agentenschleuse, über die sich später auch gesuchte RAF-Terroristen in den Osten absetzten. Und natürlich ist da der Grenzübergang Checkpoint Charlie, wo sich zur Zeit des Kalten Krieges sowjetische und amerikanische Panzer direkt gegenüberstanden. Als Flaniermeile würde die Friedrichstraße dann nicht nur für ein zeitgemäßes Verständnis einer lebenswerten Innenstadt stehen, sie würde auch die vielen Orte der Geschichte verbinden. Und am Ende könnte vielleicht doch dieser Satz wahr werden, den man in den Neunzigerjahren ständig gehört hat. Wenn Berlin mal Weltstadt wird, hieß es, dann wird sich das an der Friedrichstraße zeigen.

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