Artikel 23:"Das Grundgesetz gewinnt und verliert"

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Ein Interview mit der Europarechtlerin Anna Katharina Mangold über die höchsten Gerichte in der EU und die Grenzen nationaler Souveränität.

Interview von Karoline Meta Beisel

Manchmal geraten Grundgesetz und Europarecht aneinander - was hat dann Vorrang? Anna Katharina Mangold ist Professorin für Europarecht an der Europa-Universität Flensburg und Mitherausgeberin des nicht nur bei Juristen beliebten Verfassungsblogs.

Frau Mangold, vor der Europawahl ziehen Populisten mit der Behauptung durch die Lande, die Mitglied staaten hätten in Europa ihre Souveränität verloren. Stimmt das?

Anna Katharina Mangold: Ich finde den Begriff Souveränität in diesem Zusammenhang irreführend. Er suggeriert, dass den Mitgliedstaaten etwas weggenommen wird, und unterstellt, dass Nationalstaaten durch die Welt segeln, ohne aufeinander Bezug zu nehmen. Aber das war nicht einmal im 19. Jahrhundert so: Die Staaten mussten sich ja zum Beispiel über die Bedingungen der damals neuen Technologien verständigen, Eisenbahn, Telegrafie und so weiter. Für die Bundesrepublik kommt hinzu, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg außenpolitisch überhaupt nicht selbständig auftreten durfte. Für Adenauer war der Schritt in die europäische Integration ein Weg, als halbwegs eigenständiger Staat auf die internationale Bühne zurückzukehren. Ohne die Europäische Union würde es die Bundesrepublik in der heutigen Form womöglich gar nicht geben.

Den Kritikern der europäischen Einigung steht der französische Präsident Emmanuel Macron gegenüber. Er will die EU durch eine noch tiefere Integration reformieren. Würde das Grundgesetz das überhaupt erlauben?

Ja. Was die Bindung Deutschlands durch völkerrechtliche Verträge angeht, ist das Grundgesetz eine sehr offene Verfassung. Eine wirkliche Grenze zieht Artikel 23 nur insofern, als er auf die Ewigkeitsklausel verweist: Dort benennt das Grundgesetz aus der Erfahrung des Nationalsozialismus heraus bestimmte äußerste Grenzen, die auch eine Verfassungsänderung nicht einreißen soll: die Menschenwürde und die Prinzipien der demokratischen Rechtsstaatlichkeit. Auf die Ewigkeitsklausel hat sich das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel beim Streit um den Europäischen Haftbefehl berufen ...

... ein sehr grundsätzlicher Streit, der Rechtsgeschichte geschrieben hat.

In der Tat. Ein Amerikaner hatte geklagt, weil er von Deutschland nach Italien ausgeliefert werden sollte, wo er in Abwesenheit verurteilt worden war. Das Bundesverfassungsgericht hat dann entschieden, dass der Anspruch auf ein faires Verfahren - dazu gehört auch, nicht in Abwesenheit verurteilt zu werden - ein Element der Menschenwürde sei und den Vollzug des Haftbefehls mit Verweis auf die Ewigkeitsgarantie unterbunden. Das ist nun, vorsichtig gesagt, doch eine eher überraschende Auslegung.

Anna Katharina Mangold ist Professorin für Europarecht an der Europa-Universität Flensburg. (Foto: Privat)

Sie meinen, dass das Bundesverfassungsgericht zu viel in diese Ewigkeitsklausel hineininterpretiert?

Ja. Ich halte das für einen sehr sonderbaren Weg, materielle Grenzen für eine europäische Integration zu ziehen. Ich würde die Ewigkeitsklausel eher zurückhaltend interpretieren: dass sie eigentlich jede Integration erlaubt, solange nicht die Menschenwürde oder die demokratische Rechtsstaatlichkeit in Gefahr sind. Aber das Bundesverfassungsgericht sieht es offenbar anders.

Was meinen Sie, wie kommt es, dass ausgerechnet der Europäische Haftbefehl so umstritten ist?

Weil die öffentliche Gewalt hier in besonders intensiver Weise in die Rechte von Einzelnen eingreift. Die Mitgliedstaaten müssen darauf vertrauen, dass sich die anderen EU-Länder rechtsstaatlich verhalten. Das wirft auch in anderen Fällen Probleme auf. Eine irische Richterin hat dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorlegt, ob für Irland auch ein polnischer Haftbefehl bindend ist, wenn die polnische Justiz möglicherweise nicht mehr unabhängig ist. Beim Haftbefehl geht es um Rechtsstaatlichkeit, und es gibt Mitgliedstaaten wie Ungarn und Polen, die wirklich Zweifel aufwerfen, ob sie sich noch an rechtsstaatliche Grundprinzipien halten.

Der Europäische Haftbefehl ist ein Beispiel für Harmonisierung selbst in sensiblen Bereichen wie dem Strafrecht. Verliert das Grundgesetz in diesem Prozess an Bedeutung?

Eine schwierige Frage. Das Grundgesetz gewinnt und verliert, würde ich sagen. Es verliert insofern, als das Europarecht manchmal mehr wiegt als die nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten, wenn auch in ganz seltenen Fällen.

Zum Beispiel?

Früher stand im Grundgesetz, dass Frauen keinen Dienst an der Waffe leisten dürfen. Dagegen hatte eine Frau geklagt, die als Waffenelektronikerin bei der Bundeswehr arbeiten wollte. Und da hat der EuGH im Jahr 2000 zu Recht gesagt: Das kann ja wohl nicht sein, dass man Frauen vorschreibt, was sie tun und was sie nicht tun dürfen, das widerspricht dem Grundsatz der Gleichheit von Männern und Frauen. Da ist also eine Verfassungsnorm des deutschen Grundgesetzes für europarechtswidrig erklärt worden und gilt nun nicht mehr. Jetzt steht da: Frauen dürfen nicht zum Dienst an der Waffe verpflichtet werden.

Sie sagten, dass das Grundgesetz durch die EU nicht nur verliert, sondern auch gewinnt. Wie meinen Sie das?

Ich glaube, dass es gut ist, wenn das Bundesverfassungsgericht als oberster Interpret des Grundgesetzes gelegentlich herausgefordert wird, davon profitieren die Bürgerinnen und Bürger. Zum Beispiel legt der EuGH beim Thema Diskriminierung viel strengere Anforderungen an Kirchen an, als es das Bundesverfassungsgericht bislang gemacht hat.

Sie meinen die Chefarzt-Entscheidung, in der es um genau diese Frage ging.

Ja. Ein katholisches Krankenhaus hatte einem Chefarzt gekündigt, weil der nach seiner Scheidung neu geheiratet hatte. In diesem und einem ähnlich gelagerten Fall, in dem es um die Diakonie ging, hat der EuGH entschieden, dass die Kirchen nicht einfach ganz frei bestimmen dürfen, für welche Jobs sie eine religiöse Zugehörigkeit zu ihrer Kirche verlangen. Vorgelegt hatte die Frage das Bundesarbeitsgericht, weil es ein Urteil nicht hinnehmen wollte, das das Bundesverfassungsgericht zuvor gefällt hatte: Die Richter in Karlsruhe hatten die Kündigung des Chefarztes noch für wirksam gehalten. Nach der Entscheidung des EuGH hat das Bundesarbeitsgericht eine trotzige Entscheidung gefällt, und die Kündigung für unwirksam erklärt. Im parallelen Fall hat jetzt aber wiederum die Diakonie Verfassungsbeschwerde eingelegt, das dürfte interessant werden.

Bahnt sich da eine neue Grundsatzentscheidung an?

Ich glaube, ja. Die Verfassungsbeschwerde wird beim Zweiten Senat verhandelt, das ist der Senat, der für die Europafragen zuständig ist und gelegentlich einen, sagen wir mal, etwas rüden Ton im Umgang mit dem EuGH pflegt. Dieser Fall dürfte zum nächsten großen Konflikt zwischen Verfassungsgericht und EuGH werden.

Steht in den europäischen Verträgen nicht auch, dass die Kirchen in den Mitgliedstaaten ihr Selbstbestimmungsrecht behalten sollen? Dann dürfte die EU in Kirchensachen doch eigentlich nicht viel mitzureden haben.

Ja, das steht in den Verträgen. Aber denselben Verträgen zufolge hat die EU eben auch den Auftrag, Diskriminierung am Arbeitsplatz zu verhindern, und bei diesem Streit hat das eine Thema mit dem anderen zu tun. Der Chefarzt-Fall ist ein gutes Beispiel dafür, dass es nicht leicht ist, europäische Kompetenzen von Bereichen fernzuhalten, in denen eigentlich erst einmal nur die Mitgliedstaaten zuständig sind.

Beschreibt das nicht doch genau diese schleichende Ausweitung des Einflusses der EU, den Rechtspopulisten beklagen?

Einerseits ja. Andererseits lässt sich dieses Phänomen in allen föderalen Gemeinschaften beobachten. Auch innerhalb Deutschlands gibt es eine schleichende Anhäufung von Kompetenzen auf der Bundesebene, da müssten sich die Rechtspopulisten dann eigentlich auch beklagen. Bei allen Schwierigkeiten, die Carl Schmitt als Theoretiker mit sich bringt: Dieses besondere föderale Spannungsverhältnis hat er doch sehr treffend als "Schwebezustand" beschrieben. Mal geht es mehr in die eine, mal in die andere Richtung, und natürlich hat jede Ebene das Interesse, ihre eigenen Kompetenzen auszuweiten.

Andere Verfassungsrechtler regen sich bei diesem Thema deutlich mehr auf als Sie: Der ausgeschiedene Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, sagt, dass der EuGH inzwischen viel zu viel Macht ausübe.

Mit dem Vorabentscheidungsverfahren können nationale Gerichte dem EuGH Fragen zur Auslegung des Europarechts stellen. Die Antworten auf diese Fragen haben dann aber über den konkreten Fall hinaus Bedeutung - so wie jetzt die Entscheidung im Chefarzt-Verfahren. Gewissermaßen steckt darin eine Art Entthronung des Bundesverfassungsgerichts: Das hat nun eben nicht mehr in jedem Fall das letzte Wort. Insofern hat der EuGH tatsächlich sehr viel Macht. Aber das Verfahren ist in einer föderalen Logik durchaus sinnvoll und auch wichtig, um zu vermeiden, dass das Recht in den Mitgliedstaaten jeweils vollkommen anders ausgelegt wird. Ganz ähnlich übrigens wie das Normenkontrollverfahren in Deutschland, das in den 1950er-Jahren offenbar ein Vorbild für die EU-Regelung war: Da muss sich das Landesrecht ja auch an den Maßstäben des Bundesrechts messen lassen.

Nach den Regeln in Artikel 23 könnten der Bundestag oder der Bundesrat auch klagen, wenn die EU gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt, also Dinge regelt, welche die Mitgliedstaaten genauso gut oder besser selbst regeln könnten.

Meines Wissens ist das aber noch nie vorgekommen. Das Problem an der Sache: Eigentlich sollen die nationalen Parlamente die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips überwachen. Aber an der Rechtsetzung in der EU sind von deutscher Seite nicht Bundestag oder Bundesrat, sondern nur die Bundesregierung im Rat beteiligt. Die nationalen Parlamente sollten also eigentlich verantwortlich sein, weil es um ihre Rechte geht, aber sie können diese Rechte kaum ausüben, weil in den EU-Organen, die solche Entscheidungen treffen, eben Regierungsmitglieder sitzen.

Wie könnte man dieses Problem lösen? Welches Gericht müsste über solche Streitigkeiten entscheiden?

An sich der EuGH, aber der ist bei diesen Fragen nur ganz selten auf der Seite der Mitgliedstaaten. Bei all dem Guten, was ich sonst über dieses Gericht gesagt habe: In dieser Hinsicht begreift sich der EuGH doch eher als Förderer der europäischen Integration fast um jeden Preis, als politischer Akteur, und hat eben nicht diese Unabhängigkeit, wie wir sie uns von Verfassungsgerichten wünschen.

© SZ vom 04.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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