Artikel 87a:"Schön friedlich" war einmal

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Die Bundeswehr hat sich im Lauf der Jahrzehnte mehrmals gewandelt - und mit ihr das Bild vom Soldaten: drei Generationen im Porträt.

Von Julian Erbersdobler, Joachim Käppner und Mike Szymanski

Die Korvettenkapitänin: Anke Mies

Wenn Anke Mies von ihren Anfängen bei der Bundeswehr erzählt, klingt das so: "Ich war zu klein, und ich war eine Frau." Nicht die beste Ausgangslage, um dort Karriere zu machen. Bis 2001 durften Frauen nur als Militärmusikerinnen oder als Sanitäterinnen Dienst leisten. Eine Verpflichtung bei der kämpfenden Truppe: unmöglich. Erst eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im Jahr 2000 öffnete Frauen den Zugang zu militärischen Laufbahnen. Und damit auch Anke Mies, 38 Jahre alt, aus Stralsund, oder besser: Frau Korvettenkapitän Mies, wie sie bei der Bundeswehr genannt wird.

Schon in der Schule interessierte sie sich für die Marine. 1999, ein Jahr vor ihrem Abitur, ging Mies zur Wehrdienstberatung - und wurde abgewiesen: Mit knapp 1,60 Metern sei sie einfach zu klein. "Mir wurde angeboten, dass ich Musik machen oder als Sanitäterin arbeiten darf", sagt sie heute. Beides keine Option. Mies wollte zur Marine, kein Bürojob, Seeluft, Abenteuer, aber auch Verantwortung übernehmen, wie sie es formuliert: "Sonst hätte ich auch auf ein Kreuzfahrtschiff gehen können."

Beim Tennisspielen mit einem Leutnant erfuhr sie beiläufig, dass die Größengrenze inzwischen nicht mehr galt. Sie versuchte es erneut, wurde zu den Prüfungstagen eingeladen, musste Matheaufgaben und Planspiele lösen. Im Interview mit einem Psychologen erzählte sie, warum sie zur Bundeswehr möchte. Sie wollte zur Marine, und die Marine wollte sie. Am 1. Juli 2003 wurde sie als Offiziersanwärterin eingestellt. Kurz davor ging sie mit ihren Eltern noch mal zum Segeln, drei Wochen, von Stockholm nach Stralsund: "Auf der Fahrt sind wir einigen grauen Schiffen begegnet. Ich habe immer gewunken und wusste: Bald arbeite ich auch auf so einem Schiff".

Bis 2001 durften Frauen nur als Sanitäterinnen oder bei der Militärmusik tätig sein

Was sagen die Eltern zu ihrem Berufswunsch? "Mein Vater meinte am Anfang: Das ziehst du doch eh nicht durch." Spätestens da, sagt Anke Mies, wollte sie es ihm und auch sich selbst beweisen. Ihr Vater war Marineoffizier bei der Nationalen Volksarmee der DDR gewesen. Die Mutter machte sich dagegen eher Sorgen um ihre Tochter.

Zum Beispiel bei der internationalen "Operation Atalanta" 2009. Damals war Anke Mies mehr als einen Monat auf Antipiratenmission am Horn von Afrika - länger als geplant. Es gab einen dramatischen Zwischenfall. Piraten hatten eine Segelyacht aufgebracht, als die deutsche Fregatte "Karlsruhe" alarmiert wurde. Anke Mies war als Feuerverteiloffizierin auf der Brücke eingeteilt. Sie hätte im Ernstfall entscheiden müssen, ob geschossen wird oder nicht. Am Ende ging aber alles gut, ohne Schüsse, auch dank eines spanischen Hubschraubers, der zur Unterstützung kam. Die Piraten gaben angesichts der Übermacht auf. Die Soldaten der Fregatte nahmen sieben Piraten an Deck und legten ihnen Handschellen an. Mies und ihre Kollegen mussten auf See verweilen, bis das Atalanta-Hauptquartier entschied, dass die Männer nach Mombasa/Kenia gebracht werden sollten. "Ich war in dieser Situation schon angespannt", sagt sie. "Aber das kann man nicht mit einem Einsatz in Afghanistan vergleichen." Der Kampfeinsatz dort war ungleich gefährlicher als die Mission auf See.

Die Bindung zwischen Bürgern und der Bundeswehr "ist nicht mehr so stark wie früher

Anke Mies war als Segeloffizierin auch auf der Gorch Fock. Als Highlight ihrer Karriere bezeichnet sie eine Tour, die sie 2011 bis ans Kap Hoorn führte: "Wie viele haben das schon erleben dürfen?" Normalerweise sei das Wetter dort an der Südspitze Südamerikas meistens schlecht, "aber an diesem Tag kam sogar die Sonne raus". Aktuell ist die Bundeswehr mal wieder wegen eines ungeklärten Todesfalls an Bord und der extremen Kostensteigerung bei der Sanierung in den Schlagzeilen. Auch Mies verfolgt die Berichterstattung über all die Millionen Euro, um die es nun geht. Sie sagt: "Die Gorch Fock ist immer noch ein tolles Schiff und ich hoffe, dass die gute, alte Linie bald wieder segeln wird." Mittlerweile arbeitet sie als Personalstabsoffizierin beim Streitkräfteamt in Bonn. Ein klassischer Bürojob, die Umstellung sei am Anfang gar nicht so einfach gewesen, erzählt Mies. Wie viele Soldaten denkt sie oft darüber nach, ob sich in Zeiten der Freiwilligenarmee die Streitkräfte und die Gesellschaft noch nah genug sind, und sie ist skeptisch: "Die Bindung zwischen der Bevölkerung und der Bundeswehr ist nicht mehr so stark wie früher." Ein weiteres Problem: die Nachwuchsgewinnung, das ist ja im Ministerium gerade ihr Job. Viele fähige Leute gingen heute eher in die Wirtschaft: "Je besser die wirtschaftliche Lage im Land ist, desto größer werden die Probleme für uns, Menschen zu finden."

Aber es habe sich auch in der Bundeswehr etwas zum Positiven gewandelt: "Frauen sind heute sehr viel besser integriert als früher", sagt Mies. Während es 2001 noch etwa 6700 Soldatinnen gab, waren es im vergangenen Jahr schon fast 22 000. Aber natürlich gebe es auch jetzt noch den ein oder anderen älteren Herren, der sich einen blöden Spruch nicht verkneifen könne. Wie Mies darauf reagiert? Easy: "Wenn mal eine Bemerkung fällt, dann gibt es halt einen Konter zurück." Julian Erbersdobler

Der General a. D.:Ruprecht v. Butler

Als Ruprecht von Butler 1924 geboren wurde, war die Welt eine andere; und wer hätte die kommenden Schrecken geahnt? Sicher nicht der Junge, der auf dem elterlichen Gut in Thüringen, einer alten Wasserburg, als Jüngster von sechs Kindern eine schöne Kindheit erleben wird. Damals konsolidiert sich die Weimarer Republik, das Inflationsjahr 1923 ist überwunden. Die Butlers sind eine Soldatenfamilie; obwohl sie nach 1918 keineswegs zu den radikalen Gegnern der neuen demokratischen Ordnung zählen, trauert man auch hier der Welt des Kaiserreichs und der Bedeutung des Offizierskorps nach. Zu seinen frühen Erinnerungen gehört ein Familienfest, auf dem er der Polterabend seiner Schwester Marie-Lousie 1932, er ist sieben Jahre alt, trägt eine Kinderuniform und deklamiert: "Ich bring dir die Grüße der alten Armee. Du hältst sie noch hoch, die hehre Idee. Noch liegt die Fahne zertreten im Schmutz. Doch du stehst bereit zu Deutschlands Schutz."

Nur sieben Jahre später wird Deutschland die Welt in Brand setzen, die "hehre Idee", soweit es sie jemals gab, einer rassistischen Mordideologie gewichen sein. Nur dreizehn Jahre später sitzt Ruprecht von Butler in einem Panther und überlebt nur, weil die Luke klemmt, aus der er aus dem getroffenen Panzer fliehen will. Die anderen, die nach draußen kamen, werden von Rotarmisten erschossen. Zwei seiner Brüder sind im Krieg gefallen, er hat einen Todesmarsch mit ansehen müssen und kommt durch Glück früh aus russischer Gefangenschaft frei.

1959 geht er zur Bundeswehr, die noch reich an Wehrmachtsnostalgikern ist, aber zu ihnen gehört Ruprecht von Butler nicht. "Unsere Lebensform", sagt er, "hat sich selbst ausgeliefert." Für ihn ist es eine Gnade, gemeinsam in einem Bündnis mit den Feinden von gestern zu sein, diesmal zur Verteidigung der Freiheit statt zu ihrer Vernichtung. "Wir alle", sagt er über die Wehrmacht, "haben bis 1945 einem verbrecherischen Regime gedient", in seiner Offiziersprüfung schreibt er: "Mit dem Begriff Gehorsam ist in Deutschland viel Unheil angerichtet worden."

Sein Bruder, sein Vetter, sein Sohn werden hohe Offiziere der Bundeswehr. Ruprecht von Butler fühlt sich wohl in dieser Armee; die Werte, die sie verteidigen soll, sind die seinen. Als er 1985 als Generalmajor in den Ruhestand geht, hat er auch gelernt, dass seine Welt nicht mehr die vieler junger Menschen ist: Der Massenprotest gegen die Nachrüstung überrascht ihn. Vor dem US-Stützpunkt Mutlangen begegnet er dem evangelischen Pfarrer Jörg Zink, einem bekannten Gesicht der Friedensbewegung. Die beiden verhandeln, wie weit der Protest gehen darf. Sie werden keine Freunde, aber es bleiben gegenseitige Achtung und Respekt - zwei Staatsbürger, deren Wege ganz unterschiedlich sind. Joachim Käppner

Der Reservist: Roderich Kiesewetter

Wie es war, in den 80er-Jahren Soldat zu sein? Roderich Kiesewetter, mittags und bei Sonnenschein am 4. Juli 1982 in die Kaserne in Philippsburg eingerückt, erinnert sich an Werbeaufkleber der Bundeswehr aus der Zeit: Ein Motiv zeigt einen Igel, dazu die Aufschrift: "Schön friedlich". Oder dieses Motiv: eine Eule, die das eine Auge geschlossen hält und das andere geöffnet: "Auch nachts hellwach."

Es sah nicht unbedingt danach aus, dass Kiesewetter in seinem Soldatenleben viel zu befürchten haben würde. Aber diese Armee, die des Kalten Krieges, war am Ende dann doch nur eine von mehreren, die er in seiner 27-jährigen Dienstzeit kennenlernen sollte. "Schön friedlich"? Schön wär's. Kiesewetter geriet in seinem Soldatenleben später tatsächlich unter Beschuss, im fernen Afghanistan etwa. Wer in den 80er-Jahren hätte wohl daran geglaubt, dass Deutschlands Sicherheit auch einmal andernorts verteidigt wird, am ziemlich fernen Hindukusch etwa, wie der SPD-Verteidigungsminister Peter Struck es einmal nannte?

Kiesewetter hat in seiner militärischen Laufbahn gelernt, mit Angst umzugehen. Es ging nicht anders. Auf dem Balkan trug er Ende der 90er-Jahre in schwierigen Missionen Verantwortung für andere Soldaten. Als ob er das alles geahnt hätte, begann er damals in Philippsburg schon, Tagebuch zu schreiben. Zwei, manchmal drei Einträge die Woche verfasste der junge Soldat, gerade mal 19 Jahre alt. So ist der heute 55-jährige Oberst a. D. zum Chronisten einer Bundeswehr im permanenten Wandel geworden.

Seit 2009 sitzt er für die CDU im Bundestag. Er kümmert sich um Außen- und Sicherheitspolitik. Für ihn war es eine Karriereentscheidung, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Er wollte die Vorzüge nutzen, welche die Truppe zu bieten hatte: Führungsverantwortung lernen, vom kompakten Studium profitieren, das ihm die Bundeswehr bot und das ihn bis nach Austin, Texas, führen sollte.

Finanziell war die Bundeswehr noch gut ausgestattet. Mit dem Gefühl der Bedrohung war umzugehen: "Das Narrativ damals lautete: Kämpfen zu können, um nicht kämpfen zu müssen", erzählt er. Für ihn war dieser Spruch immer nur die halbe Wahrheit. Er ist in einer Soldatenfamilie aufgewachsen. Für ihn war klar, es gehört genauso zum Beruf, "kämpfen zu wollen, wenn es nötig ist".

Mit dem Fall der Mauer hatte Kiesewetter Aufbau Ost zu leisten: Es galt, aus zwei Armeen eine zu machen. "In den neuen Ländern habe ich eine ganz andere Armee erlebt. Im Unterschied zum Westen herrschte dort eine gewisse Aufbruchstimmung. Es wurde viel improvisiert und man hatte Freiheit im Führen." Kiesewetter war in der Aus- und Fortbildung tätig. Das Ziel: die Armee der Einheit zu formen. Leicht war das nicht. Aus dem Westen wurde Ausrüstung abgezogen. Die Stimmung dort hatte keinesfalls etwas von Aufbruch. Die Bundeswehr hatte gerade sehr mit sich selbst zu tun.

Mitten in der Phase der Identitätssuche kamen neue Anforderungen. Die internationalen Partner machten jetzt klar: "Ihr habt jetzt von der Einheit profitiert, ihr habt von den Sicherheitsgarantien unserer Partner profitiert, jetzt müsst ihr auch bereit sein, etwas zu geben", erinnert sich Kiesewetter. Im Winter 1991 leistet die Luftwaffe während des Zweiten Golfkriegs ihren ersten Einsatz: Achtzehn Alpha-Jets und 212 Soldaten wurden nach Erhaç in der Türkei verlegt, ihr Auftrag war die Sicherung der Nato-Südflanke während des zweiten Golfkrieges. "Die Soldaten kamen völlig gestresst und geschafft zurück. Das hat uns damals gezeigt: Wir sind mental nicht auf einen Einsatz außerhalb der Bundesrepublik eingestellt."

Die Bundeswehr war nicht wirklich darauf vorbereitet, was sie in Afghanistan erwartete

Die 90er-Jahre wurden zum "Reifeprozess" für die Bundeswehr mit ihren Einsätzen, später vor allem auf dem Balkan. Das galt genauso für die Politik, wie Kiesewetter erzählt. Und auch für ihn, der 1999 im Sfor-Einsatz in Bosnien und Herzegowina war. Auslandseinsätze wurden für die Bundeswehr zur Normalität. In den 2000er-Jahren wandelte sich die Bundeswehr zur "Einsatzarmee" - in der Hochphase waren mehr als 10.000 deutschen Soldaten zeitgleich im Auslandseinsatz.

Der Kampfeinsatz in Afghanistan veränderte die Bundeswehr noch einmal grundlegend. Sie war nicht nur von der Ausrüstung her nicht wirklich darauf vorbereitet, was sie erwartete. Kiesewetter, von 2006 bis 2009 im europäischen Nato-Kommando Shape eingesetzt, hat den Einsatz in dieser Zeit eng begleitet. Die klassische Landes- und Bündnisverteidigung, mit der er einmal in der Bundeswehr groß geworden war, rückte in den Hintergrund. Und gespart wurde an der Bundeswehr wie nie zuvor. Kurz nach Kiesewetters aktiver Zeit leitete Minister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) das Ende der Wehrpflicht ein.

Stünde Kiesewetter heute vor der Entscheidung, zur Bundeswehr zu gehen, er würde sich schwertun, sagt er. "Ich möchte nicht, dass Streitkräfte einfach nur Ausdruck einer Funktion sind, in diesem Fall der Sicherheit." Aber genau darauf sei es hinausgelaufen. Neulich hatte Kiesewetter in seinem Wahlkreis Aalen-Heidenheim das Technische Hilfswerk besucht. Er wollte wissen, woher sie ihr Personal bekommen. Leute, die Laster fahren können, die medizinische Kenntnisse haben. Wissen, das zu seiner Zeit Leute aus der Bundeswehr oft mitbrachten. Die fehlen nun. Die Bundeswehr hat weniger zu bieten heute - und zurückzugeben an die Gesellschaft. Auch das bedauert Kiesewetter. Mike Szymanski

© SZ vom 04.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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