Zum Abschluss der Berlinale:Ich leide, also schieß' ich

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Ob Mord oder politischer Extremismus - schuld daran ist immer die böse Welt. Die Erkenntnis, dass niemand tatsächlich über sein Schicksal bestimmt, hat auf dieser Belinale das Kino erreicht.

Susan Vahabzadeh

Es wird wohl in diesem Jahr ein Novum geben - der Silberne Bär für den besten Regisseur, sonst eine Randerscheinung der Berlinale, macht Schlagzeilen, während man den eigentlichen Siegerfilm eher marginal zur Kenntnis nimmt. Den Goldenen Bären hat ein wunderschöner, ruhiger kleiner türkischer Film von Semih Kaplanoglu gewonnen, "Bal/Honig", in dessen Zentrum ein kleiner Junge steht. Den Regiepreis bekam der in der Schweiz unter Hausarrest stehende Roman Polanski für seinen Thriller "Der Ghostwriter"- was dann in den nächsten Tagen, weil es so schön sensationell klingt, der Jury unter Vorsitz von Werner Herzog sicher als Beistandsgeste ausgelegt werdenwird; es ist aber doch ein Preis für die Inszenierung eines Films und nicht für fehlerfreie Lebensführung.

Vom leisen Verschwinden der Bienen: Bora Altas als sechsjähriger Imkersohn Yusuf in "Honig". (Foto: Foto: dpa)

Die Nachricht, die von Polanski aus dem Arrest übermittelt wurde, klingt aber recht seltsam - er wäre auch nicht gekommen, hätte er gekonnt, weil er im September unterwegs zu einem anderen Filmfestival verhaftet wurde. Hat das bei ihm eine Phobie ausgelöst, die auftritt, sobald mehrere Filme nacheinander laufen?

Kleine Dramen

"Honig" erzählt von ein paar Tagen im Leben des sechsjährigen Yusuf, aus seinem Blickwinkel: Man sieht mit seinen Augen die Nebensächlichkeiten, die ihn faszinieren, wie der Mond tanzt in einem Eimer Wasser zum Beispiel; man nimmt mit ihm die kleinen Dramen in der Schule wahr, während er das große nicht bemerkt. Der Goldene Bär für "Honig", der Regiepreis für Roman Polanski, der Silberne Bär für das rumänische Jugendgefängnisdrama "Wenn ich pfeifen möchte, pfeife ich" - das geht alles durchaus in Ordnung, die Filme gehören zu den wenigen Highlights, die der Wettbewerb der Geburtstagsberlinale zu bieten hatte.

Wenig echte Höhepunkte hatte dieser Wettbewerb in der Tat - aber man muss sich dann auch fragen, ob es die Filme, die man vermisst, tatsächlich gibt; und ob sie zu haben waren. Es sind überall in der Welt seit Beginn der Finanzkrise weniger Filme produziert, Projekte abgesagt worden - und langsam macht sich das bemerkbar.

Jener Teil des amerikanischen Kinos, der Festivals immer besonders geschmückt hat, die Art von Filmen - mit Stars besetzt, aber ambitioniert und mutig -, die auch bei den Oscars jahrelang eine Rolle gespielt haben und um die sich auch Cannes und Venedig reißen, werden immer weniger, also hat man sich mit der ein oder anderen Glamour-Vorstellung nebenher, als Berlinale Special, beholfen, und das ist dann für die Stars wieder so unwichtig, dass sie unglamouröserweise nicht kommen. Die Klage, es seien zu wenig Stars bei der Berlinale gewesen, hat inzwischen schon Tradition; allerdings werden mittelmäßige Filme nicht davon besser, dass ihr Hauptdarsteller anreist.

Fürchterliche Mütter

Davon abgesehen war es ein assoziativer Wettbewerb, ein Entlanghangeln an einander ähnlichen Bildern und vergleichbaren Konstellationen. Die Fluchtszenen in Rafi Pitts "Zeit des Zorns" und Benjamin Heisenbergs "Der Räuber". Oder die Puzzlespiele, die Gérard Depardieu in "Mammuth" und die Heldin in "Rompecabezas" geschenkt bekommen. Oder die Brüderpaare, von fürchterlichen Müttern zu Kriminellen gemacht, in Thomas Vinterbergs "Submarino" und Florin Serbans "Wenn ich pfeifen möchte, pfeife ich".

Und die Klippen auf der entlegenen Geröllinsel im russischen Wettbewerbsbeitrag "How I Ended This Summer" lösen Flashbacks aus, an Leonardo DiCaprio, wie er ein paar Tage zuvor, außer Konkurrenz, in Scorseses "Shutter Island" herumkraxelte. Genaugenommen ist ja auch "Der Ghostwriter" ein Inselfilm - eine Ménage à trois auf Martha's Vineyard. Sowas spielt eine Rolle bei der Anordnung der Filme - da ist es schon faszinierend, wie ähnlich Heisenberg und Pitt inszeniert haben und wie unterschiedlich "Mammuth" und "Rompecabezas" mit ganz ähnlichen Szenen umgehen. Aber diese Verbindungen sind dann letztlich doch nur zufällig, keine Zustandsbeschreibung der Menschheit.

Nun soll ja aber ein Festival vor allem auch eine Schau des Weltkinos sein, idealerweise erkennt man in einem Wettbewerb mehr Zusammenhang als ein paar Bilder, die gleichzeitig mehreren Menschen auf unterschiedlichen Erdteilen eingefallen sind. Da kristallisiert sich tatsächlich ein großer Trend heraus - zumindest in jenen Filmen, die hier gelaufen sind: Die Abkehr von der Verantwortung des Individuums für das, was es tut.

Ein bizarrer Freispruch widerfährt Ferdinand Marian in "Jud Süß - Film ohne Gewissen". Oskar Roehler erzählt von der Entstehung von Goebbels' Lieblingsfilmprojekt und vor allem von seinem Hauptdarsteller. Dem hat Roehler eine jüdische Frau angedichtet, mit der Goebbels ihn erpresst, und so wird Marian plötzlich zum NS-Opfer.

Völlige Verantwortungslosigkeit

Der Junge in "Wenn ich pfeifen möchte, pfeife ich" sitzt im Knast, was er gemacht hat, wissen wir nicht - nur dass die Mutter ihn immer wieder abgeschoben hat wegen ihrer Männergeschichten. Er verlangt Freigang, um zu verhindern,dass sie sich seinen kleinen Bruder holt - und nimmt eine Geisel, als er ihn nicht bekommt. Es gab zwei unvermittelte spontane Morde - die frisch entlassenen Berufskriminellen im norwegischen Wettbewerbsbeitrag "A Somewhat Gentle Man" und in "Der Räuber" sind so genervt, dass sie impulsiv jemanden umbringen. In "Zeit des Zorns" kommt der Ausbruch nicht unvermittelt - da hat die Polizei die Frau und die Tochter des Protagonisten versehentlich bei einem Einsatz getötet, eines Mannes, dem das iranische System ohnehin nur noch sehr wenig Raum gelassen hat zum Glücklichsein. Er wird zum Heckenschützen, der Jagd auf - willkürlich ausgewählte - Polizisten macht. Zwei Filme erzählen direkt vom Irrsinn, von der völligen Verantwortungslosigkeit, "Shutter Island" und "The Killer Inside Me".

Es ist in all diesen Geschichten irgendeine fremde Macht - oder ein innerer Zwang -, die diese Männer dazu bringt, so zu handeln: Ich leide, also schieß ich. Nun kann man am Beispiel Irans vielleicht deutlicher von äußerem Zwang erzählen, als wenn man sich Norwegen als Handlungsort erwählt hat. Und der Amoklauf ist ein immer wiederkehrendes Kino-Motiv. In der Massierung aber kommt es einem doch recht eigenartig vor. Natürlich kann man manchmal an der Welt verzweifeln - der Gewaltausbruch als Reaktion ist aber gottlob eher selten. Die moderne Erkenntnis, dass niemand tatsächlich über sein Schicksal bestimmt, frei von allen Zwängen, hat sich - im Kino zumindest - ins Gegenteil verkehrt: Ob Mord oder politischer Extremismus, immer ist die böse Welt dran schuld. Das ist zwar nicht so abwegig wie die Angst vor Filmfestivals - aber manchmal kann man, wenn einer Mist gebaut hat, das Gerede von den Umständen wirklich nicht mehr hören.

© SZ vom 22.02.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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