Zum 70. Geburtstag von Keith Jarrett:"Oh, hören Sie, hören Sie!"

Lesezeit: 3 min

Jazzlegende Keith Jarrett (Foto: AFP)
  • Der US-amerikanische Jazz-Pianist Keith Jarrett feiert seinen 70. Geburtstag und wird aus diesem Anlass 2015 zwei Konzerte in Europa geben.
  • Die Aufzeichnung seines Solo-Improvisationskonzerts "The Köln Concert" aus dem Jahr 1975 ist die meistverkaufte Soloplatte der Jazzgeschichte.
  • Auf das Konzert darf man Jarrett trotz des riesigen Erfolgs bis heute nicht ansprechen.

Von Alex Rühle

Der Besuch damals in den Wäldern von New Jersey war eine bizarre Erfahrung. Vorab schon das feinmaschige Briefing durch seinen treuen Weggefährten Manfred Eicher. Kommen sie auf gar keinen Fall zu spät! Und reden Sie ihn bloß nicht auf das Köln Concert an! Beides in derart dringlichem Ton vorgetragen, dass klar war: Nur pünktlich und schweigend kann dieser Besuch etwas werden.

Klangkaskaden und Akkordgewitter

Die Pünktlichkeit nützte dann aber gar nichts, Jarrett schlug zur angegebenen Uhrzeit mehrfach die Tür seines herrlichen Hauses zu, es sei noch zu früh. Er müsse erst mal essen.

Das Schweigen über das eine Konzert aus dem Jahr 1975 allerdings, dessen Aufnahme auch noch die meistverkaufte Solo-Platte der Jazzgeschichte ist, das half vielleicht. Jarrett taute nach und nach auf, sprach viel über Bach und sein Standards-Trio, über den Zustand von tranceartiger Klarheit, in dem er sich beim Improkomponieren befinde und die Erschöpfungskrankheit, die ihn jahrelang verstummen ließ.

Tranceartige Klarheit: Keith Jarrett auf dem Cover seines berühmtesten Albums "The Köln Concert". (Foto: ECM)

Und dann ging er sogar in seinen heiligen Raum, das Zimmer, in dem er Musik hört. "Setzen Sie sich!" Er legte eine CD von sich ein, und dann brachen Klangkaskaden über uns herein, Akkordgewitter, hoch aufragende Harmonietürme: Samuel Barbers Klavierkonzert, spätromantisch, wuchtig und elegisch, eine Aufnahme aus den Achtzigern.

Jarrett wühlt sich durch die weit ausschwingenden Melodien und lässt den zweiten Satz dann ganz ruhig beginnen, als plötzlich von hinten seine Stimme ekstatisch durch den Raum ruft: "Oh! Oh!! So beautiful. Listen!"

"Hm", sagt Manfred Eicher, der Gründer des Labels ECM, der seit 1972 mit Jarrett zusammenarbeitet, als er kürzlich von diesem bizarren Moment hörte, "da haben Sie Glück gehabt. Viel ungemütlicher ist es, wenn Sie in dem Sessel Platz nehmen müssen und er schaut Sie erwartungsvoll von vorne an, während seine Musik läuft."

Ach, eigentlich ist es natürlich ganz falsch, mit einer Anekdote anzufangen. Jarrett will von so etwas nichts wissen. So, wie er nicht über seine Musik reden will. Die soll ganz für sich stehen, schließlich empfindet er sich bis heute als ihr Diener: "Wenn die Musik sich nicht mit einer höheren Macht verbindet und ich mich ihr nicht beuge, geschieht nichts. Es ist jedes Mal wie ein Geschenk."

Auf Anektdoten steht bei Jarrett die Höchststrafe

So steht's bei Wolfgang Sandner, der pünktlich zu Jarretts 70. Geburtstag eine wunderschöne Biografie vorgelegt hat, ein Glücksfall von einem Buch: Der Musikwissenschaftler und Publizist Sandner vermag die Musik so genau zu beschreiben, er findet so passende Bilder für Jarretts Improvisationskunst, sein Zusammenspiel mit Gary Peacock und Jack DeJohnette, aber auch für den klassischen Interpreten, dass man nach dem Lesen zuweilen glaubt, die Stücke zu kennen, ohne sie je gehört zu haben.

Eine gewisse tragische Komik erhält das Buch dadurch, dass Jarrett den Kontakt zu Sandner abgebrochen hat, seit der es einmal gewagt hatte, im Gespräch vom Köln Concert zu schwärmen, die ostinat kreisenden Figuren der linken Hand, die Tontrauben darüber, die fast ausufernde Klangseligkeit bei gleichzeitig extremer Strukturiertheit.

Und all das auf diesem ollen Flügel, der so klapprig klang, dass Jarrett eigentlich gar nicht hatte spielen wollen an dem Abend. . . Aber lassen wir das, wie gesagt, auf Anekdoteln steht bei ihm die Höchststrafe.

Reichen wir lieber noch Musik: Jarretts Label ECM bringt zum Geburtstag zwei Alben heraus: "Creation" enthält neun Aufnahmen von sechs improvisierten Solo-Konzerten 2014 in Toronto, Tokio, Paris und Rom, die Jarrett und Eicher zu einer Art weitschwingenden Suite zusammengestellt haben. Und dann haben sie Samuel Barbers Klavierkonzert mit dem dritten Konzert von Béla Bartók gekoppelt, zwei Aufnahmen aus den Achtzigerjahren: Oh yeah, oh so great oh listen, listen!

Im Mai spielt Jarrett Solokonzerte in Neapel und Luzern

Auf iTunes gibt es zudem eine "Curated Artist Page", auf der fünfzehn neu gemasterte Klassiker angeboten werden. Und wer ihn live sehen will, muss sich bald aufmachen: Zwei Solokonzerte gibt er anlässlich seines Geburtstags in Europa, am 18. Mai im Teatro San Carlo in Neapel, am 22. Mai im KKL in Luzern.

Und jetzt bitte zur Feier des Tages das Köln Concert auflegen, Dammda-dadadamm, drei Achtel, zwei Sechzehntel, die harmlos winzige Keimzelle, aus der dann wie ein lebendes Origami sich eine Stunde Musik entfaltet. Nein, er soll sich ja auch freuen, also sein vielleicht schönstes, klarstes, ruhigstes Werk: "The Melody At Night, With You".

© SZ vom 08.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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