Zehnte Station in Rosso Mgabam, Senegal:Die Stadt der Tiere

Lesezeit: 4 Min.

Er fragte sich, ob Esel auch im Stehen schliefen. (Foto: Michael Glawogger)

Man träumt immer rückwärts. Oft sogar so weit nach hinten, in die hinterste Vergangenheit, dass man nicht mehr weiß, um wen oder was es ging. Eine fiktive Geschichte, die auf ganz realen Beobachtungen beruht.

Von Michael Glawogger

Er dachte, dass man nicht vorwärtsträumen konnte. Er hatte noch nie erlebt und auch noch nirgends gelesen, dass man vorwärtsträumt. Man träumt immer rückwärts. Oft sogar so weit nach hinten, in die hinterste Vergangenheit, dass man schon gar nicht mehr weiß, um wen oder was es da ging.

Eigentlich hätte er die Anzeichen erkennen müssen. Er stand an Deck der Fähre zwischen Mauretanien und dem Senegal und schlief im Stehen ein. Er hätte daran denken müssen, dass Menschen im Stehen nicht einschlafen, aber er konnte nicht denken, denn er schlief ja. Nur Pferde schlafen im Stehen, glaubte er noch, gedacht zu haben, und dann schlummerte er in der Mittagssonne friedlich vor sich hin. Er träumte und hatte eine Ahnung, dass sein Traum von Eseln handelte, aber sicher war er sich dessen nicht.

Was er wusste, war, dass er, als er auf der anderen Seite des Flusses wieder erwachte, sich fragte, ob Esel auch im Stehen schliefen. Er hatte sowohl liegende Esel als auch stehende Esel mit geschlossenen Augen gesehen - in ganz Marokko und Mauretanien. Das waren die Länder, die ganz und gar den Eseln gehörten. In Mauretanien könnte man sich vorstellen, dass zwischen Eseln und Kamelen ein Bürgerkrieg ausbräche. Aber von so einem Krieg der Tiere hatte er noch ebenso wenig gehört wie von Menschen, die im Stehen schliefen.

Tee, Telefonkarten, kernlose Mandarinen

Der Schlaf konnte nicht länger als ein paar Sekunden gedauert haben, denn sonst wäre er wohl in den Senegal gefallen. Wobei das eine schöne Vorstellung war. Das Wasser dieses Flusses war sauber und von einem einladenden Grün, und es glitzerte ein wenig in winterlicher Klarheit. Der Winter in Afrika ist ja ein heiterer, kühler und dabei sommerlicher Winter. Die Pferde in seiner Heimat würden solch einen Sommer genießen, wie in Afrika der Winter war. Die Esel sicher auch. Warum habe ich das jetzt gedacht, dachte er, und schüttelte den Gedanken schnell wieder ab.

Am anderen Ufer warteten Verkäufer von Waren aller Art. Der Senegal begrüßte ihn mit Tee, Telefonkarten und kernlosen Mandarinen. Er wollte alles drei. Glücklich trank er seinen stark gezuckerten Tee, speicherte eine neue Nummer, die nun mit +221 statt +222 begann, in sein Handy und dachte, dass seine Seele in den nächsten Wochen Orange und nicht mehr Mauritel gehören würde, während er eine Mandarine nach der anderen schälte und sie schnell und im Ganzen aß. Plötzlich fiel ihm ein, dass er Mandarinen nicht mochte, und schon gar nicht im Ganzen. In Wirklichkeit grauste ihm vor Mandarinen. Das dicke Weiße zwischen den Spalten fand er eklig und musste spucken, wenn er draufbiss. Aber jetzt aß er sie, als gäbe es kein Morgen. Wahrscheinlich, weil er so gut geschlafen hatte auf der Fähre. Im Stehen.

In Rosso, also im senegalesischen Rosso, das eigentlich Rosso Mgabam heißt, schienen alle zu stehen. Die Kinder und Jugendlichen, die hier die Taxifahrer waren, standen stolz auf den Ladeflächen ihrer Pferdewagen und bellten einander um die Vorfahrt an, um dann mit durchgestrecktem Rücken und hochgezogenen Schultern stolz ihre Pferde anzutreiben. Er wollte sich noch umschauen, ob einige der vielen Stehenden auch schliefen, als er selbst erwachte. Aber diesmal im Liegen in seinem Bett im Hotel Ace - und das war noch in Mauretanien, was er alleine schon am Schreien der Esel draußen in der nächtlichen Stadt erkannte. Es war erst drei Uhr morgens. Er stand auf und schaute aus dem Fenster. Gemächlich spazierte eine kleine Ziegenherde über die Hauptstraße, ein Pferd trabte um die Ecke, und zwei Esel standen Stirn an Stirn vor dem Hotel. Sie schauten sehr traut und liebevoll aus, als würde sie sich beim Tragen ihrer schwer gewordenen Köpfe gegenseitig helfen.

Als er sich anzog, dachte er verstört, dass man doch nicht vorwärtsträumen konnte. Er hatte noch nie erlebt und auch noch nirgends gelesen, dass man vorwärtsträumt. Man träumt immer rückwärts. Oft sogar so weit nach hinten, in die hinterste Vergangenheit, dass man schon gar nicht mehr weiß, um wen oder was es da ging. Und in die Seele träumt man vielleicht hinein - wirres Zeug aus Erdachtem, Erlebtem, Erahntem und Vergrabenem. Aber nicht in die Zukunft. Und eines war klar: Er war noch nie in Rosso Mgabam gewesen und nicht auf der Fähre im Stehen eingeschlafen; er wusste noch nicht, dass die Vorwahl des Senegal +221 war, er hatte keine aufrecht stehenden Kinder auf Pferdetaxis gesehen und schon gar nicht in ganze Mandarinen hineingebissen, denn er mochte keine Mandarinen.

Angst vor dem Esel

Er trat aus dem Hotel auf die Straße und wunderte sich noch, dass niemand dort im Freien schlief. In diesem Teil der Welt schlief immer jemand im Freien. Man fühle sich eigentlich wie ein Idiot, wenn man sich ein stickiges Hotelzimmer nahm, wenn auf dem nächsten Flachdach ganze Familien friedlich unter dem Sternenhimmel schliefen. In diesem Moment fiel ein Geschwader von Moskitos über ihn her, und das war wohl der Grund.

Er ging zurück, um die Flasche No-Bite aus dem Zimmer zu holen, und sah, dass niemand an der Rezeption saß. Dort saß sonst immer einer und schaute den ganzen Tag schräg nach oben auf den Fernseher. Egal ob es gerade Hangover 2, eine Siegerehrung in Sotchi oder die neuesten Nachrichten aus der Ukraine zu sehen gab. Er erinnerte ihn an ein Doonesbury Cartoon, in dem die Kinder ihre Eltern fragen: "Is this news or may we enjoy it?" Der Mann an der Rezeption machte nie den Eindruck, etwas zu genießen, weder eine Gewaltorgie in einem Thriller noch das Glück der Tina Maze noch die Düsternis der Weltnachrichten. Und jetzt war er weg. Der Fernseher lief.

Später, als er durch die völlig verlassenen Straßen ging, und ihm ein Esel schon seit guten zehn Minuten hinterherlief, bekam er es mit der Angst. Immer wenn er sich umdrehte, tat das Tier, als stünde es nur so herum. Esel tun ja meistens, als wären sie gar nicht da. Außer, wenn sie beim Flehmen die Ohren zurücklegen oder zu ihrem immer nach einer Klage klingenden Geschrei ansetzen.

Er drehte sich noch einmal um und blieb stehen, etwa in der Haltung des Esels. Da standen sie nun auf der menschenleeren Straße, während der Tag heraufdämmerte. Er dachte noch so etwas wie: "Die Menschen werden schon kommen, wenn es erst einmal Tag ist", bis er gar nichts mehr dachte. Der Esel stand plötzlich ganz dicht neben ihm, schrie laut, stieg in die Höhe und biss ihn in den Nacken. Er glaubte noch, dass das ja als Zärtlichkeit gemeint sein könnte, als er den Schmerz im vollen Umfang spürte.

"Is this reality or may I enjoy it?", schoss ihm ein, als er auf der Fähre stehend erwachte.

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