Es ist erstaunlich, wie viele zukünftige Schriftsteller sich auf Twitter tummeln. Und ambitionierte Romanprojekte verfolgen. Während sie Cornflakes essen, eine Serie schauen oder am Pool liegen. Oder all das gleichzeitig tun. Zumindest behaupten sie das in ihren Tweets. Wie JD Bourke am 15. Juni 2012 um 3.14 Uhr: "Working on my novel, drinking mimosas and laying out by the pool. Good thing I skipped work today! #writing."
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Der amerikanische Medienkünstler Cory Arcangel hat einige dieser Tweets, in denen der Wortlaut "Working on my novel" vorkommt, gesammelt und ein Buch daraus gemacht ( Penguin, 144 S., 5,99 £). Das Ergebnis ist eine deprimierende und zugleich anrührend witzige Bestandsaufnahme unserer Zeit, in der Internet und Social Media die Kreativität beherrschen. Die Kommentare erzählen von Schreibblockaden, Selbstermunterungen und Schriftstellerträumen. Vor allem aber ist "Working On My Novel" ein Zeugnis von Prokrastination. Wie viele Folgen "Gilmore Girls" müssen diese Möchtegern-Romanciers wohl noch sehen, bis sie ihre Bücher vollenden?
Tweets in Papierform
Zwischen Selbstzweifeln, Inspirationslosigkeit und Träumen, die vermutlich Träume bleiben werden, blitzt manchmal unerwartet Selbstreflexion oder Ironie auf oder ein humorvoller Aphorismus: "Working on my novel is a lot like a committed relationship; I sometimes take it for granted but fall in love all over again." Arcangel bewegt sich als Herausgeber und Kommentator der Tweets in einer literarischen Tradition irgendwo zwischen Tagebuch und Briefroman. Andy Warhol ist sein großes Vorbild. Warhols Buch "A. Ein Roman" - es besteht aus transkribierten Tonbandaufnahmen von Gesprächen mit seinen Freunden - ist das Modell für "Working on my novel". Die Tweets, die Arcangel zunächst digital sammelte, legt er nun in Papierform vor. Das ist eher ungewöhnlich für den 36-jährigen Post-Internet-Künstler, der von der New York Times als "digitales Wunderkind" gefeiert wurde und schon im Hamburger Bahnhof in Berlin, im MoMa und im Whitney Museum in New York ausgestellt hat.
Mit Vorliebe kombiniert Arcangel unterschiedliche Medien, bedient sich etwa bei Youtube oder Computerspielen. Für sein Open-Source-Werk "Super Mario Clouds" (2002) löschte er aus dem bekannten Nintendo-Spiel alle Figuren, so dass nur der blaue Hintergrund mit den weißen Wolken blieb, in "Drei Klavierstücke, op. 11" (2009) montierte er Youtube-Videos von klavierspielenden Katzen so, dass die Komposition Arnold Schönbergs zu hören ist.
2011 legte der Netzkünstler für sein jüngstes Sampling-Produkt den Twitter-Account "Working on my novel" an und begann, alle Kommentare, die sich auf die Arbeit an einem Roman bezogen, zu retweeten. Das Prinzip erinnert an die "Cadavre Exquis"-Technik der Surrealisten, bei der mehrere Personen nacheinander auf ein gefaltetes Papier zeichnen oder schreiben, ohne zu wissen, was der Vorgänger fabriziert hat. Schon seit dem Biedermeier ein beliebtes Familienspiel.
Auch die von Arcangel ausgewählten Tweets fügen sich - ohne sich bewusst aufeinander zu beziehen - zu einem Gesamtwerk. Auf jeder Seite steht ein ausgewählter Tweet, leserfreundlich im oberen Drittel der Seite platziert. Mit exakten Quellenangaben, der Künstler ist ja kein Plagiator. Zwischendrin sind ein paar Zeichnungen von Arcangel selbst zu finden: ein Teekessel aus verschiedenen Perspektiven. Immer wieder derselbe. Symbol für diejenigen, die lieber abwarten und Tee trinken, anstatt zu arbeiten?
Roman als Hobby
Self-Publishing-Plattformen, Amazon und Bloggerkultur erleichtern die Veröffentlichung eigener Texte enorm. Das Schreiben scheint mittlerweile zu einer hippen Nebenbeschäftigung geworden zu sein, vielen gefällt ganz einfach auch ihr eigenes Bild von sich als Schriftsteller. Und der hat wiederum laut Tonianne Bellomos Tweet erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Hipster: "James Dean shirt on, Arctic Monkeys playing, and working on my novel." Für die meisten ist der Roman eines von mehreren Projekten, das neben anderen Hobbys und Tätigkeiten gepflegt wird. Ist die kreative Arbeit mittlerweile zur Selbstlegitimation verkommen? In einer Leistungsgesellschaft, die sich durch Arbeit definiert, muss man schließlich immer an etwas arbeiten. Gehört es ganz einfach zum guten Ton, einen Roman zu schreiben? Oder zumindest davon zu twittern?
Im Gegensatz zu den meisten Twitter-Autoren hat Arcangel sein Buchprojekt realisiert, den Wechsel in ein anderes Medium vollzogen. Der Pop-Künstler Warhol hat 1968 den amerikanischen Alltag seiner "Factory"-Freunde inklusive Drogen-Exzessen und Nonsense-Gesprächen in eine literarische Form gepresst. Allerdings zu einem Zeitpunkt, als er bereits ein angesagter Star war. Warhol war Anstifter und Mittelpunkt seines selbsterschaffenen Kunstkosmos, er machte sich zum Chronisten der Ereignisse im Zentrum der Pop-Art. Arcangels Tweet-Sammlung aus der Netzwelt ist weniger glamourös. Der Künstler hört in digitale Netze und wird zum Archivar des Kreativitätszwangs. Die altbekannte Schwierigkeit, eine Geschichte zu erzählen, bleibt. Alles nichts Neues. Aber neu gesampelt.