"Wonder Woman 1984":Auslaufmodell

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Mit dem Lasso der Wahrheit: Gal Gadot in "Wonder Woman 1984" aus dem Jahr 2017. (Foto: Clay Enos/dpa)

"Wonder Woman 1984" startet Weihnachten gleichzeitig als Stream und im Kino. Ein Corona-Präzedenzfall. Und eine Zeitenwende?

Von Tobias Kniebe

Dicht an dicht in der Schlange stehen, für neue spektakuläre Bilder, womöglich um den ganzen Häuserblock herum - das war das alte selige Kinogefühl, das dem Blockbuster seinen Namen gab. Man stand da einerseits, weil man Lust darauf hatte. Andererseits aber auch, weil man anders nicht an den heißen Stoff kam. Die Kinos hatten eine Macht, über die sie eifersüchtig wachten - ein exklusives Zeitfenster zu bestimmen, in dem die Zuschauer einen begehrten Film eben nirgendwo anders sehen konnten.

Jetzt hat die Wucht des Coronavirus auch dieses scheinbar ewige Gesetz gebrochen: Warner Brothers und die weltgrößte Kinokette AMC haben einvernehmlich angekündigt, dass sie das Kinofenster beim weihnachtlichen US-Start von "Wonder Woman 1984" auf null reduzieren werden. Der von den Fans heiß erwartete Superheldenfilm wird am 24. Dezember in jenen Filmtheatern des Landes auftauchen, die gerade offen haben dürfen, im selbem Moment aber auch auf dem Warner-eigenen Streamingservice HBO-Max. Es wird erwartet, dass auch andere große Kinoketten bei dem Deal noch mitziehen. Wie sich die Sache in Deutschland abspielen wird, wo es HBO-Max noch nicht gibt und die Kinos bis auf Weiteres geschlossen sind, ist derzeit völlig unklar.

Die große Null in den USA, das ist dann aber doch eine Ansage. Schon vorher ist das Zeitfenster der Kinos in den letzten Jahren immer kleiner geworden. Netflix etwa gestand seinem selbstproduzierten Großwerk "The Irishman" von Martin Scorsese noch etwa vier Wochen in den Kinos zu, bevor der Streamingstart kam. Damals waren die großen Kinobetreiber noch empört und wiesen den Deal von sich, nur einzelne Kinos machten mit. Aktuell aber hat die große Kinokette Cinemark zugestimmt, das Netflix-Weihnachtsdrama "The Christmas Chronicles 2" mit Kurt Russell und Goldie Hawn vor dem Streamingstart am 25. November eine einzige Woche exklusiv in den US-Kinos zu zeigen. Offenbar gibt es jetzt kein Zurück mehr.

Die Pandemiezeiten sind hart, könnte man nun sagen, die Kinos nehmen halt, was sie kriegen können - und danach kehren alle zum alten Modell zurück. Aber wird es so einfach sein? Im Grunde ist es ein Traum der großen Studios, dass sie das Szenario der totalen Wahlfreiheit einmal testen können: Wer rüstet zum gemeinsamen Ausflug ins Filmtheater, um Gal Gadot als "Wonder Woman" im Kalten Krieg der Achtzigerjahre zu sehen - und wer abonniert lieber HBO-Max, um sich das Ganze auf dem heimischen Sofa reinzuziehen? Von den Antworten, so verzerrt sie durch Virenangst und Kinoschließungen gerade sein mögen, wird für die Zukunft der Filmindustrie viel abhängen.

Bevor die Kinos endgültig eingeknickt sind, gab es auch schon das Modell Alleingang. Am spektakulärsten hat das Disney durchgezogen, mit seiner chinesischen Heldinnensaga "Mulan". Der Film sollte groß in die Kinos kommen, wurde wegen Corona mehrfach verschoben - und übersprang die Filmtheater am Ende ganz. Weltpremiere war im September auf dem Studio-eigenen Streamingservice Disney Plus, aber zu einem absoluten Premiumpreis: Selbst, wer schon Abonnent der Plattform war, musste für "Mulan" noch mal 21,99 Euro extra bezahlen.

Den Erfolg von Streaming-Anbietern bestimmen eher serielle Leitfiguren wie Baby Yoda

Wenn das allerdings ein Versuch war, über den exklusiven Zugang zu "Mulan" scharenweise neue Kunden für Disney Plus zu gewinnen, hat das Spiel eindeutig nicht funktioniert. Schon etwa einen Monat nach dem hauseigenen Streamingstart war der Film auch auf anderen Video-on-Demand-Plattformen wie Amazon und Google Play verfügbar, von Exklusivität keine Spur mehr - das 200-Millionen-Dollar-Budget musste überall wieder hereingeholt werden. Was einen Verdacht bestätigt, der auch vorher schon im Raum stand: Exklusive Kino-Blockbuster sind für den Erfolg von Streaming-Plattformen offenbar gar nicht entscheidend.

Dem Service Disney Plus nämlich geht es glänzend, nach den letzten Zahlen hat er jetzt fast 74 Millionen Abonnenten. Interne Daten gibt Disney natürlich nicht preis, aber das Beispiel der schnell gebrochenen "Mulan"-Exklusivität deutet darauf hin, dass für den Erfolg eher jene Helden zuständig sind, die von Anfang an die Plattform definiert haben - allen voran das großäugige, spitzohrige Knitterwesen aus der Serie "The Mandalorian", dass die Fans Baby Yoda nennen. Im Disney-Hauptquartier in Burbank würde man sich jedenfalls lieber beide Hände abhacken, als Baby Yoda anderen Plattformen zur Verfügung zu stellen.

Fürs Kino aber ist das eine gute und sogar hoffnungsvolle Nachricht. Es bedeutet, dass die Streaming-Anbieter auf serielle Leitfiguren setzen müssen, deren Geschichten sich schnell fortspinnen lassen, während das einmalige große Spektakel, auf dessen Sequel man zwei Jahre warten muss, bis auf Weiteres eine Domäne des Kinos bleibt. Ob diese von anderen Anbietern so leicht erobert werden kann, steht immer stärker infrage.

Das erfährt jetzt womöglich auch Warner Brothers, wenn "Wonder Woman 1984" auf HBO-Max dem großen Test unterzogen wird. Am Ende könnte sich die Pandemie, die Katastrophenszenarien aller Art heraufbeschwört, sogar noch als eine Art Zukunft-Impfstoff für die Filmtheater erweisen: Wer danach wieder um den ganzen Häuserblock Schlange steht, für neue spektakuläre Bilder, tut das, weil er es eben will. Und nicht mehr, wie man immer dachte, weil er muss.

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