Berechnung der Charts:Wenn der Rechner Feste feiert

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Andrew Ridgeley und George Michael haben als "Wham!" den zweitgrößten Weihnachtsklassiker des Popzeitalters aufgenommen. (Foto: PA/dpa)

Der Weihnachtsklassiker "Last Christmas" von "Wham!" wurde zum überraschenden Neujahrs-Hit. Das hat vor allem mathematische Gründe.

Von Joachim Hentschel

Wieso ausgerechnet der Song "Last Christmas" als so besonders nervtötender Weihnachtsklassiker gilt, ist auch in der Saison 2020/21 nicht klarer geworden. Das Stück - geschrieben und gesungen vom Popgenie George Michael, veröffentlicht unter dem Alias seiner Gruppe Wham! - skizziert das Fest als Metapher für die menschlich-emotionale Gesamttragödie, mahnt zum Aufbruch, allem Widerstand und Kitsch entgegen. Wie ein guter Soulsong, der über Advent halt etwas häufiger läuft. Seit George Michael 2016 am ersten Weihnachtstag starb, klingen die Schlittenglocken in "Last Christmas" sogar noch melancholischer.

Und obwohl es schwer zu glauben ist: Nummer eins der Charts war der 1984 veröffentlichte Superhit bislang nur in peripheren Märkten wie Dänemark oder Island. In Deutschland reichte es lediglich für Nummer zwei. Ebenso in Großbritannien, dem Mutterland des Songs, dessen Popkultur von Charts aller Art geradezu besessen ist. Buchmacher nehmen dort jedes Jahr Wetten auf die Weihnachts-Nummer-eins an, "Last Christmas" ging mehrfach als Zweiter durchs Ziel, besser wurde es nie.

Bis jetzt. Mit ihrer ersten Auswertung fürs Jahr 2021 vermeldete die Official Charts Company, die im Auftrag der britischen Musikindustrie die wöchentlichen Hitlisten erstellt, dass "Last Christmas" jetzt endlich doch die Nummer eins erreicht hat, irrwitzige 36 Jahre nach Veröffentlichung und ohne irgendeine PR-Kampagne. Weihnachts-Spitzenreiter war der Song allerdings nicht, der Ruhm ging an "Don't Stop Me Eatin'" von LadBaby, einer Youtube-Comedy-Band. "Last Christmas" ist die Neujahrs-Nummer-eins, und darüber zeigte sich auf Twitter auch Michaels damaliger Wham!-Partner Andrew Ridgeley "erfreut, ein bisschen überrascht und zutiefst angetan".

In den deutschen Singlecharts steht "Last Christmas" auch 2021 nur auf Platz zwei

Heißt das, dass sich der Song besser verkauft hat als je zuvor? Sicher nicht. Laut offizieller Mitteilung haben in der letzten Dezemberwoche nur gut 1500 britische Kunden "Last Christmas" in Downloadshops erworben. Entscheidend für den Erfolg waren die mehr als neun Millionen Streams auf Plattformen wie Spotify, Apple oder Amazon Music. Die Official Charts Company folgt hier einem komplizierten System, das Streamingzahlen in verkaufte Einheiten umrechnet. Dabei wird genau zwischen bezahlten und unbezahlten Abonnements unterschieden, zwischen aktuellen und älteren Songs. Im Fall von "Last Christmas" wurden je 200 bezahlte und 1200 Gratis-Streams wie eine verkaufte Single gewertet. Voraussetzung: Hörerinnen und Hörer ließen mehr als 30 Sekunden laufen, bevor sie weiterklickten.

Warum das Wham!-Wunder ausgerechnet 2021 eingetreten ist, lässt sich damit nicht ganz erklären. Eine Regelung, die Musikstreams fest in die Verkaufscharts eingemeindete, trat in Großbritannien schon Mitte 2014 in Kraft, wurde später bloß noch verfeinert. Dass die schönen, klaren Definitionen alter Zeiten damit verloren sind, wird von vielen Veteranen beklagt. Aber auch sie werden nicht leugnen, dass reine Verkaufslisten heute nur noch ein Zerrbild der Hörgewohnheiten abgeben würden.

An der Chartausgabe, die von "Last Christmas" angeführt wird, lässt sich exemplarisch ablesen, was in britischen Wohnzimmern über die Feiertage lief: Die Top Ten bestehen nahezu komplett aus alten Klassikern. Vermutlich sind die meisten der Songs über Standard-Playlisten dort gelandet, die im Hintergrund mitliefen, die von Alexa-verwandten Geräten auf der Suche nach Mood-Musik angesteuert oder von Algorithmen ausgewählt wurden, welche auf ein Weihnachtslied das nächste, möglichst ähnliche folgen ließen. "Last Christmas" erfüllt in diesem Kontext derart viele Features und Kriterien, dass gerade die zunehmende Home-Entertainment-Automatisierung beim überraschenden Chart-Sturm mitgeholfen haben könnte. Wo früher die bewusste Kaufentscheidung einen Song nach oben brachte, reicht es heute schon, ihn einfach nicht abzuschalten, wenn das System ihn von sich aus durch die Lautsprecher schickt.

In den deutschen Singlecharts steht "Last Christmas" übrigens auch 2021 nur auf Platz zwei. Oben thront Mariah Carey mit "All I Want For Christmas Is You". Auch sie nervt offenbar immer noch nicht genug.

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