Der Hass auf und zwischen Religionen war nie verschwunden, aber zuletzt flammt er wieder stärker auf. Antisemitische Anschläge, aggressive Debatten über die Aufgabe jüdischer Museen in Deutschland, die Klassifizierung von Einwanderern als Muslime, die man früher zum Beispiel Türken nannte, Kopftuchverbote hier, Kopftuchzwang dort.
Auch wo es friedlich zugeht, ist was los in der Religionsarena: Jürgen Habermas führt detailliert wie nie durch das historische Ineinander von christlicher Theologie und Aufklärung in Europa, "Maria 2.0" protestiert gegen den Zölibat, und der Schriftsteller und Staatsrechtler Bernhard Schlink fordert in der FAZ trotz oder wegen fortschreitender Säkularisierung eine Beratungslösung beim Wunsch auf Kirchenaustritt: Wer die Kirche verlassen wolle, solle auf dem Pfarramt erscheinen und noch einmal darüber reden - eine Art Kirchensteuer-Nudging, das an die einst beliebte Missionsformel compelle intrare ("Nötige sie, hereinzukommen") erinnert.
Die Geisteswissenschaften reagieren auf die gegenwärtige Lage - wie auch sonst? - mit historischer Differenzierung. Nach den islamistischen Terroranschlägen auf New York und Washington am 11. September 2001 war das vulgarisierte Modell nach dem Ägyptologen Jan Assmann populär geworden, wonach dem Monotheismus von vornherein eine Ausschließlichkeit mit Tendenz zur Gewalt innewohnt. Es scheint, als wollten die jüngsten Ansätze zur Geschichte des Gezänks der Religionen demgegenüber jetzt ihrerseits lieber abrüsten.
Islamische Eroberung, Kreuzzüge, Judenpogrome: Religiöse Vielfalt heißt nicht, dass es immer bunt und friedvoll zuging
Darauf deuten diverse Publikationen sowie zwei Vorträge, die in dieser Woche in der mehrheitlich nicht mehr christlichen Stadt München zu hören waren. Beide Vorträge kündigten an, die gemeinsame Geschichte von Judentum, Christentum und Islam seit dem Mittelalter noch einmal ganz neu zu erzählen.
Die Frankfurter Historikerin Dorothea Weltecke sprach als Gastforscherin im Historischen Kolleg; ihr Kollege David Nirenberg von der University of Chicago, unter anderem bekannt für seine Geschichte des Antijudaismus, tat es als Eröffnungsredner der Konferenz "Juden und Muslime in Deutschland", die noch bis Freitag an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften aktuelle Religionskonflikte historisch beleuchten will.
Dorothea Weltecke, die in der aufgeregten Orientierungssuche nach dem 11. September 2001 für zehn Jahre als Religionsexpertin an die Universität Konstanz berufen worden war, schickt gleich voraus, um Missverständnissen vorzubeugen: Wenn Historiker "religiöse Vielfalt" untersuchten, solle das nicht so klingen, als sei es in der Geschichte immer bunt und friedvoll hergegangen. Stichworte: islamische Eroberung, Kreuzzüge, Judenpogrome. Aber die Grundidee einer Geschichte der "historischen Abhängigkeit der drei Religionen" bis heute sei es, diese nicht als fertige Blöcke und Einheiten zu betrachten - weder von vorn, also von ihren heiligen Schriften her, noch von hinten, also im Licht ihrer heute vertrauten Gestalt.
Das heißt: Erst in ihrer Wechselwirkung, durch Austausch und Abgrenzung, sind jene drei Weltreligionen geworden, was sie sind. Eine solche Sichtweise nimmt die offenen Grenzen und das geografische Nebeneinander in der Spätantike zum Ausgangspunkt; auch das Mittelalter sei nicht etwa pauschal intolerant gewesen. Es gab formale Duldung unter der herrschenden Religion Christentum oder Islam; Minderheiten erhielten einen beschränkten, aber eben doch anerkannten Status, während "eigene" Ketzer und Apostaten es oft schwerer hatten. Auch fehlten vor der Entstehung des neuzeitlichen Staats oft noch überhaupt "die Herrschaftsmittel, um religiöse Einheit zu erzwingen", so Weltecke.
In Quellen aus der Mission und der Diplomatie findet sich nicht nur Kämpferisches,sondern auch gewinnende Argumente
Alle drei abrahamitischen Religionen seien schließlich stets "polyzentrisch organisiert" gewesen, auch das vorreformatorische Christentum mit der Trennung von Rom und Byzanz. Um die "multireligiösen Lebenswelten" der Vergangenheit in einem "Gespinst von Auslegungstraditionen" zu untersuchen, will die Historikerin deshalb weniger theologische Dogmengeschichte betreiben, sondern lieber Quellen zu Rate ziehen, "in denen die anderen vorkommen" - in der Diplomatie etwa, in der Mission und in den vielen überlieferten Religionsgesprächen finde man eben nicht bloß hochspekulative oder kämpferische, sondern naturgemäß auch gewinnende Argumente: "Die Grenzen trennen die Menschen, aber sie verbinden sie auch."
Zwei Tage später lauschte Dorothea Weltecke dann ihrem amerikanischen Kollegen und zeigte sich nicht etwa verärgert, sondern sportlich angeregt dadurch, dass David Nirenberg eine ganz ähnliche Studie in Angriff nimmt. Die Offenheit der Religionsgeschichte müsste zwar eigentlich schon längst selbst offen zu Tage liegen, sagte er, aber anscheinend müsse man sie in diesen Zeiten der Polarisierung doch wieder neu präsent machen. Als Mitglied des einflussreichen "Committee on Social Thought" in Chicago wird David Nirenberg zum Beispiel auch von Facebook als Berater gefragt, wie man "religiöse Hassrede" im Internet unterbinden solle.
Davon habe er eigentlich keine Ahnung, bekannte Nirenberg in München, er sehe seinen kompetenteren Beitrag in den historischen Quellenstudien. Trotzdem wurde der Forscher im Blick auf die heutigen Konflikte und Phobien pathetischer und utopischer als Dorothea Weltecke: In der immer neuen Untersuchung der historischen Beziehungen der abrahamitischen Religionen sieht David Nirenberg einen Hoffnungsschimmer für das gesellschaftliche Zusammenleben; im Geist von Walter Benjamin sollten die Geisteswissenschaften versuchen, im Archiv Möglichkeiten einer besseren Zukunft zu finden. Das klang sehr schön und ermutigend, doch brachte Nirenberg dafür leider ein weniger ermutigendes, weil leicht bevormundendes Beispiel: Den kunst- und bilderfeindlichen Mullahs von heute solle man doch einfach die illuminierten persischen Handschriften aus dem Mittelalter unter die Nase reiben.