Serie "Welt im Fieber" - USA:Schlagwörter: Unheimlich, stressig, ängstlich

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Eine Stadt ohne Lockdown in den USA: Rapid City. (Foto: Kerem Yucel/AFP)

Kristen Roupenian schreibt seit Jahren Tagebuch. Was würde eine Historikerin in den Aufzeichnungen der vergangenen Wochen lesen?

Gastbeitrag von Kristen Roupenian

Als ich in der vierten Klasse war, las ich das Tagebuch der Anne Frank und kurz darauf brach der erste Golfkrieg aus. Am Abend schlug ich ein leeres Notizbuch auf, datierte es und schrieb: "Ich bin neun Jahre alt. Der Golfkrieg hat heute angefangen." Entgegen meinen Erwartungen wurde aus dem Notizbuch kein wichtiges historisches und kulturelles Zeugnis, vor allem weil der Golfkrieg mein Leben in keiner Weise betraf, weshalb ich ihn nie mehr erwähnte. Ich schreibe jetzt seit Jahren Tagebuch und dort finden sich akkuratere Quellen darüber, wie das Coronavirus mein Leben beeinflusst, als ich zugeben mag, wenn ich mich bewusst hinsetze, um "Ein Corona-Tagebuch" zu schreiben.

Im Rückblick auf mein tatsächliches Tagebuch werden künftige Historiker den 3. März als Datum festhalten, an dem das Wort "Coronavirus" zum ersten Mal auftauchte. Scharfsinnig schrieb ich: "Irgendwie besorgt wegen des Coronavirus." Am nächsten Tag bekannte ich, mir Sorgen um "meinen Roman und das Coronavirus" zu machen. Außerdem schrieb ich über einen Streit mit Callie darüber, ob ich einen zu großen Vorrat an Reis angelegt hatte. Die Geschichte wird zeigen, dass ich nie deutlicher auf der richtigen Seite stand als an jenem Tag. Jedenfalls notierte ich noch, dass ich beim Kneipenquiz war an dem Abend und wir verloren.

Dann verschwindet das Coronavirus aus der Chronik meines Lebens bis zum 8., als ich schrieb, mein Vater sei "besorgt wegen des Coronavirus", dann blieb es wieder unerwähnt bis zum 11., ich beschrieb den Tag als "unheimlich", hielt aber fest, dass mein Team endlich im Kneipenquiz gewonnen hatte (vermutlich weil die schlauen Leute alle wussten, dass man zu Hause bleiben sollte). Am 12. zeigte ich auf, dass es sich "sehr real" anfühle und benutzte Variationen des Wortes "unheimlich" in den Einträgen vom 13., 14., 15., 16. und 17. Danach wechselte ich zu den Schlagwörtern "stressig" und "ängstlich" bis zum 23. März, einem Tag, den ich als "überraschend gut" beschrieb.

Seitdem kommen, würde ich sagen, vier, fünf "harte", "zähe" oder "stressige" Tage auf jeden als "gut" oder "okay" markierten Tag, aber das Wort "Coronavirus" habe ich seit Wochen nicht mehr gebraucht. Von Mitte bis Ende März sprach ich viel von "social distancing" und "Quarantäne", dann verschwand auch das: Ich mache es noch, aber ich sehe keinen Sinn mehr darin, es aufzuschreiben. Wenn es keine Daten in dem Tagebuch gäbe, wäre ich mir nicht sicher, ob man die meisten Einträge der letzten zwei Wochen von denen der letzten Jahre unterscheiden könnte: Ich lese, ich schreibe, ich mache mir Gedanken übers Schreiben, ich sehe fern, ich beklage mich. Nur zusammengenommen sind sie anders: Keine Unterbrechungen durch Besuche von Freunden oder Reisen, keine Triumphe oder Enttäuschungen im Kneipenquiz. Nur eine schwache Traurigkeit mit gelegentlich bizarren Einträgen über einen Streit mit den Nachbarn darüber, wer das Recht hat, zu grillen (niemand!), oder wie ich vor nervöser Erschöpfung zusammenbrach, als ich vom Einkaufen kam. Schockierend, wie schnell zum Hintergrundgeräusch wird, was im Vordergrund stehen müsste. In historischer Perspektive waren die letzten Wochen ereignisreich. Aber für mich wirkt alles verschwommen, als säße ich zu nah am Fernseher und drückte die Nase gegen die Mattscheibe.

Kristen Roupenian, geboren 1982 in Plymouth, ist eine amerikanische Schriftstellerin. Bekannt wurde sie 2017 mit ihrer Kurzgeschichte "Cat Person", auf Deutsch erschienen in dem Erzählband "Cat Person. Storys." (Blumenbar Verlag).

Aus dem Englischen von Marie Schmidt

© SZ vom 25.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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