Wahre Welt (3):Globale Wundertüte

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Der Wandkalender "Best of National Geographic 2006" setzt der notorischen Einseitigkeit von Bildkalendern ein überaus breites Spektrum an Motiven entgegen. Und das bei durchgängig hoher Qualität.

Paul Katzenberger

Die Bewohner der nördlichen Breiten können von Glück sprechen, dass der Winter durch den Jahreswechsel aufgelockert wird: Immer dann wenn die graue Jahreszeit ihre größte Tristesse entfaltet, erfreuen die neuen Kalender das Gemüt der witterungsgeplagten Mitteleuropäer. Wann bekommt man sonst noch Gelegenheit, in die warme und bunte Ferne schweifen - wenn auch leider nur gedanklich?

(Foto: Foto: National Geograpic)

Diese kleinen Fluchten scheinen heißbegehrt zu sein, wie ein Gang durch einschlägige Buchläden in der Zeit des Jahreswechsels belegt. Da entführen einen die ausgehängten Kalender in die entlegensten Erdwinkel: Ob die Seychellen, Namibia, New York oder der Himalaya - die Ferne kann schon demnächst im Wohnzimmer sein.

"Bäuerisches Leben im Wohnzimmer"

Unbeschränkt soll die Placebo-Freiheit aber offensichtlich auch nicht sein - dazu ist die überwältigende Mehrheit der angebotenen Kalender schlicht zu monothematisch. Auswüchse der Spezialisierung wie der "Literarische Katzenkalender 2006" mögen Extreme sein, doch bereits die Beschränkung auf typische Themen wie "Halbnackter Mann", "Halbnackte Frau", "Robbie Williams", "The Simpsons", "Bäuerisches Leben" oder "Fußball" deuten nicht gerade auf einen weiten Horizont bei der Mehrheit der Betrachter hin.

Im Gegensatz dazu ist das Spektrum des alljährlichen Kalenders "Best of National Geographic" überaus breit: "Landschaften und ihre Menschen in allen Erdteilen der Welt, seit den 1930-er Jahren bis heute" könnte zusammengefasst das Thema des Kalenders 2006 lauten.

Weltruf

Diese Inhaltsangabe ist ambitioniert, doch wenn jemand ein solches Pensum ohne Qualitätsverluste abliefern kann, dann ist das wohl National Geographic. Die "National Geographic Society" als Herausgeberin des Kalenders und des gleichnamigen weltbekannten Magazins ist schließlich nicht irgendwer: Schon früh seit ihrer Gründung im Jahr 1888 hat sich die Gesellschaft einen Weltruf auf dem Gebiet des Fotojournalismus erarbeitet. Ihr Name wird heute häufig in einem Atemzug mit so renommierten Magazinen wie Paris Match oder Life und der legendären Agentur Magnum genannt. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts glänzte die Non-Profit-Organisation aus Washington D.C. regelmäßig mit Farbfotos - in einer Zeit also, in der Lichtbilder für gewöhnlich schwarz-weiß daher kamen.

In der 120-jährigen Geschichte der Gesellschaft ließ sich so ein stattliches Reservoir an erstklassigen Fotos der verschiedensten Sujets anlegen. Der Kalender, in den nur die besten Exponate Eingang finden, gleicht daher jedes Jahr einer globalen Wundertüte, in der Bilder aus sieben Kontinenten für jede Abwechslung gut sind: Vom Boab-Baum, dessen Samen die Winde vor 75 Millionen Jahren in den australischen Outback trugen, bis zum ultramodernen Radioteleskop in der Halbwüste von New Mexiko ist alles möglich.

Der Mensch im Mittelpunkt

Treue Leser der National-Geographic-Bücher werden so manches Bild wieder erkennen, weil die Photos regelmäßig zweitverwertet werden. Den Fundus für den diesjährigen Kalender bildete der Band "Best of National Geographic - die faszinierendsten Gesichter der Welt". Er löst den Auswahlband "Die Welt in atemberaubenden Bildern" ab, aus dem 24 Bilder für die Kalender der vergangenen zwei Jahre entnommen wurden. So erklärt sich, dass im Kalender 2006 der Mensch deutlicher im Mittelpunkt der Darstellungen steht als in den zwei Vorjahren.

Das ist gut so, denn das menschliche Antlitz regt mehr zum Nachdenken an als Landschaften, selbst wenn diese spektakulär sind. So fragt sich der Betrachter des Januar-Bildes unwillkürlich, was wohl aus dem Mädchen im russischen Murmansk geworden sein mag, das dem Fotographen Dean Conger im Jahr 1977 mit vier Fingern sein Alter zeigte. Trotz des hässlichen Plattenbaus im Hintergrund und der offensichtlichen Eiseskälte am nördlichen Polarkreis spricht Frieden aus der Szene: Das Umfeld der Kleinen scheint intakt zu sein, so gut eingepackt, wie sie ihren Porträteur mustert. Als sie 1990 an der Freiheit schnuppern durfte, hatte sie ihr Leben immer noch vor sich. Doch ob es im neuen Russland immer noch so viele Kinder gibt wie im sozialistischen Murmansk? Außer den Kinderspielplätzen und Tschapkas, die immer noch überraschend gleich aussehen, hat sich dort schließlich so gut wie alles geändert.

Eine augenfälligere Zeitenreise ist die Aufnahme der sechs Badeschönheiten am Waikikistrand, fotografiert von Richard H. Stewart im Jahre 1938. Frisuren und Badeanzüge beschwören den Muff prüder Zeiten herauf. Beinahe vergisst der Betrachter, dass der Strand Honolulus schon immer goldfarben und der Wellengang einzigartig waren.

Das legendäre Bild junger Xhosa von James Nachtwey entfaltet seine gewaltige Wirkung auch durch den meisterhaften Bildaufbau und eindrucksvolle Farben: Indem der mit Lehm beschmierte Jüngling im Vordergrund den Bildrahmen nahezu zu sprengen scheint, erhält das Bild die gewünschte Dramatik. Die Niedergeschlagenheit, die aus dem Gesicht zu lesen ist, findet ihre Entsprechung in der gebückten Haltung des zweiten Jägers im Mittelgrund sowie der gähnenden Leere im Hintergrund. Die Szene stellt nur eine Pause dar, aber was soll hier noch geschehen? Das Leben in Afrika kann noch tragischer sein als graue Wintertage in Deutschland.

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