Vom Sex in den Medien:Porno-Pop und Prüderie

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Wie Bier ohne Alkohol und Kaffee ohne Koffein ist Sex ohne Körper, präsentiert in Talkshows und im Internet. Warum sich die Gesellschaft "oversexed and underfucked" fühlt.

Robert Pfaller

Es ist nicht ganz unkomisch, zu beobachten, wie sehr die westliche Gegenwartskultur, die sich selbst doch gern als besonders aufgeklärt und postmodern-lustbezogen versteht, seit Beginn der neunziger Jahre in eine Tendenz zu Lustfeindlichkeit und Prüderie verfällt: Immer mehr Leute ekeln sich "spontan" vor Sexualität oder Tabakkultur, wenn nicht gar vor den Eigenheiten ihres Körpers. Den meisten Genüssen ist der Zahn gezogen, sodass wir (wie Slavoj Zizek bemerkt hat) Schlagsahne vorzugsweise ohne Fett, Bier ohne Alkohol, Kaffee ohne Koffein oder Sex ohne Körper serviert bekommen.

Beobachten ja, erleben nein: Immer mehr Leute ekeln sich vor Sexualität, dennoch boomt die Amateurpornographie. (Foto: Foto: dpa)

Paradox dazu verhält sich der Boom von Amateurpornographie wie auf der Videowebseite "Youporn", das programmatische Interesse an schmutziger Sexualität und politischer Unkorrektheit wie etwa im Magazin Vice, und Popstars wie Britney Spears oder Rihanna, die in Pornokostümen auftreten. Wie hängt nun das eine mit dem anderen zusammen? Wieso ist die erotische Austrocknung der Kultur begleitet vom massiven Auftauchen von grellem, pornographischem Pop? Vielleicht könnte man sagen: Je mehr die Gesellschaft als ganze ihre kulturellen Bezüge zur Sexualität verliert, desto drastischer sind die Bilder davon, die auf ihren Bühnen erscheinen.

Passion als Privatmarotte

Und zwar mit einer doppelten Funktion: sowohl, um der verbliebenen Sehnsucht Nahrung zu geben, als auch, um von der Sache abzuschrecken und über ihren Verlust zu trösten. Es verhält sich wie bei der aktuell beobachtbaren Entwicklung von verlorengehendem Genuss zu verstärkt wahrgenommener Sucht: Wenn es keine Normalvorbilder des Genusses mehr gibt, dann treten nur noch deren Zerrbilder in Erscheinung. Das Zerrbild des Genusses ist der Süchtige; das Zerrbild der Sexualität ist der Popstar oder der Talkshowgast.

Wenn man zum Beispiel den Spielfilm mit aktuellen Fernsehformaten vergleicht, so wird man feststellen, dass hier eine gegenläufige Entwicklung stattgefunden hat: Je weniger Sex es im Film gibt, desto mehr dafür in der Talkshow und in den Reality-Formaten. Das Verhältnis dieser beiden Phänomene ist allerdings komplex. Das eine Medium hat keineswegs bloß die Aufgaben des anderen übernommen. Vielmehr hat der gezeigte Sex im Fernsehen eine ganz andere Funktion als früher im Film. Der Spielfilm proklamiert mit seiner Darstellung von Erotik immer einen gesellschaftlichen Standard. Er enthält, wie das ästhetische Urteil im Sinn Kants, eine Forderung nach allgemeiner Übereinstimmung. Er mag dabei mitunter zu weit gehen, und oft werden viele ihm nicht folgen wollen. Aber immerhin macht er bestimmte Verhaltensformen gesellschaftlich diskutierbar und legt zitierbare Muster für sie vor, auf die man im eigenen Verhalten anspielen oder sich berufen kann.

Die Talkshow hingegen präsentiert sämtliche ihrer Themen als ausgefallene Privatmarotten. Sie ist die Konsequenz eines öffentlichen Raumes, der durch die neue allgemeine Regel "Wenn Sie das schon unbedingt tun müssen, dann machen Sie es bitte zu Hause!", wie sie zum Beispiel in Bezug auf das Rauchen geäußert wird, vollkommen entleert ist. Wenn die Leute also alles irgendwie Anstößige oder dafür Infragekommende nur noch zu Hause machen, dann ist freilich eine bestimmte Öffentlichkeit neugierig, zu erfahren, was denn da nun überall zu Hause so getan wird. Und wie immer in solchen Situationen finden sich prompt Individuen, die bereit sind, derartiges willig bekanntzumachen.

In diesem Setting aber bleibt das Dargebotene nun trotz Veröffentlichung die Privatmarotte, als die es präsentiert wird. Mag das Outing der Protagonisten auch von der Hoffnung getragen sein, für die eigene Passion in der Öffentlichkeit Verständnis und Sympathie zu finden, das heißt, wenigstens ansatzweise einen gesellschaftlichen Standard zu prägen, so passiert doch hier notwendig immer das Entgegengesetzte: Die Öffentlichkeit guckt interessiert hin, aber mit dem Interesse, sich in der Folge am mitteilungsbedürftigen, vermeintlich "primitiven" Individuum abzuputzen und mit dem Finger auf es zu zeigen. Wenn es Sympathie gibt, dann allenfalls für den Unterhaltungswert der Marotte, ihre Ausgefallenheit; sowie für die Tatsache, dass der andere die Verantwortung dafür übernommen hat und man sich selbst nun entlastet fühlen kann.

Lesen Sie auf Seite 2, warum die Bewohner des "Big-Brother"-Containers eigentlich Indianer sind.

Nicht gerade einfacher macht die Sache, dass die meisten Primitiven, psychoanalytisch gesehen, Übertragungsobjekte ihrer Beobachter sind. Das heißt, sie spielen ihnen immer genau jene Primitivität vor, von der sie meinen, dass diese sie sehen wollen. In dieser mehr oder weniger verzweifelten Reaktion auf eine vermutete Erwartung steckt, wie Stephen Greenblatt gezeigt hat, sowohl eine Unterwerfungsgeste gegenüber dem Anderen als auch der Protest gegen diese Unterwerfung. Wenn amerikanische Indianer im 19. Jahrhundert ihren weißen Beobachtern, von denen sie besiegt worden sind, unappetitliche "skatologische" Riten vorführten, dann akzeptierten sie ihre Niederlage und protestierten zugleich dagegen. Kaum anders ist das Verhalten der Verlierer von heute in den Talkshows und Reality-Containern.

Auch die Diven und Stars, deren Bezeichnungen an das Göttliche und Heilige erinnern, haben die traditionell dem Göttlichen und Heiligen vorbehaltene Aufgabe, die Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen ihrer jeweiligen Gesellschaft zu repräsentieren. Je realitätsferner und verzweifelter aber die Hoffnungen einer Gesellschaft auf Sexualität sind, und je größer ihre Furcht vor ihr, desto greller müssen die Popikonen diese Sexualität verkörpern. Sie führen ihnen damit, ähnlich wie die Heldinnen der klassischen Tragödie, zugleich die Unerreichbarkeit ihres Ideals und dessen Verderblichkeit vor Augen - sowie auch den Vorteil, der darin liegt, kein Held, sondern bloß Zuschauer zu sein.

Die Sehnsucht nähren

Realitätsfern sind die sexuellen Hoffnungen großer Teile der Gesellschaft, in der wir leben, weil in diesem Bereich, ähnlich wie in vielen anderen, wie zum Beispiel der Bildung, eine massive Umverteilung stattgefunden hat - nicht nur auf der Ebene der realen Praktiken, sondern vor allem in Bezug auf deren "Deckung" durch kulturelle Vorbilder. Während es in den sechziger und siebziger Jahren noch breiten Teilen der Bevölkerung möglich war, sich im erotischen Verhalten an Loren, Mastroianni, Dunaway, McQueen, Schneider, Piccoli und anderen wenigstens perspektivisch zu orientieren, bleibt den Bewohnerinnen und Bewohnern der postmodernen, postsexuellen Welt diesbezüglich wenig übrig.

Die Sexualität hat sich aus der Mitte der Gesellschaft verflüchtigt; nur noch an ihren Extremen ist sie jetzt auffindbar: einerseits an der Reichtumsspitze der Gesellschaft, etwa in der Flavio-Briatore-Klasse, andererseits am immer breiter werdenden unteren Rand. Die sogenannte Unterschicht hat begonnen, gleichsam als ihr Klassenbewusstsein, eine neue, internetgestützte Expertise für das Pornographische zu leben. Dem bekannten Artikel "Voll Porno!" des Stern zufolge halten 14-Jährige nicht mehr Händchen, sondern treffen sich lieber zum Gangbang. Reifere Bildungsferne bewerben sich für Reality-Shows. Dem zuschauenden Rest der Gesellschaft dient dies zur Unterhaltung, zugleich aber auch als Drohung: Wenn ihr euch nicht zusammennehmt, dann sitzt ihr morgen schon selber im Container.

Hier lässt sich erkennen, weshalb die meisten Angehörigen der postmodernen Kultur sich ständig, wie es neudeutsch heißt, als "oversexed and underfucked" empfinden. Das Grelle hat die Funktion, vernünftige Beleuchtungen, in denen man das eine oder andere erkennen, in Bezug auf gesellschaftliche Standards diskutieren sowie für sich gewinnen und nutzbar machen könnte, zu verhindern. Dadurch fungiert der Porno-Pop als Stütze für die erotische Verelendung in der postmodernen Kultur. Ebenso hat die Vorführung prononcierter, in die Extreme getriebener Sexualität wie in den Romanen von Cathérine Millet oder Michel Houellebecq oder in Filmen wie Patrice Chéreaus "Intimacy" auf bildungsnäherer Ebene die Funktion, die Sehnsucht nach diesem der Mehrheit entzogenen gesellschaftlichen Beutegut zu nähren. Aber immer in genau jener Form, die geeignet ist, die Sexualität zu diffamieren - ein Bild von ihr zu zeichnen, das die Sehnenden dazu veranlasst, von sich aus erschrocken von ihr Abstand zu nehmen.

Der Autor lehrt Kulturwissenschaft in Linz und Wien. Zuletzt erschien von ihm "Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur" (Fischer).

© SZ vom 08.08.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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