Anne-Frank-Buch:"Keinerlei seriöse Beweise"

Lesezeit: 3 min

"Das ist, was ich Verrat nenne": Mirjam de Gorter, die Enkelin Enkelin Arnold van den Berghs, über das Vorgehen des "Cold Case Teams". (Foto: IMAGO/ANP)

Der niederländische Verlag nimmt das umstrittene Buch über den Verrat an Anne Frank nach erneuter harter Kritik von Experten aus den Läden.

Von Jens-Christian Rabe

Der Verlag Ambo/Anthos zieht die niederländische Ausgabe des umstrittenen neuen Buches über den Verrat an Anne Frank zurück. Nach erneuter harter Kritik von Experten teilte der Verlag mit: "Basierend auf dem Report haben wir entschieden, das Buch unverzüglich aus dem Handel zu nehmen." Die Buchhandlungen seien gebeten worden, ihren Bestand zurückzuschicken. Zudem bat der Verlag erneut um Entschuldigung. Am Mittwochvormittag war "Het verraad van Anne Frank" über Amazon allerdings noch erhältlich.

In Amsterdam hatte am Dienstagabend ein sechsköpfiges niederländisches Forscherteam um den Historiker Bart Wallet, Professor für jüdische Geschichte an der Vrije Universiteit Amsterdam, seine Überprüfung der im Buch präsentierten neuen Ermittlungen zum Verrat von Anne Frank vorgestellt. Die Veranstaltung war nichts weniger als eine Demontage erster Klasse. Von der Arbeit eines "Cold Case Teams", das der amerikanische Verlag HarperCollins mit den Recherchen zum Buch beauftragt hatte, blieb am Ende nichts übrig.

Das Recherche-Kollektiv um den niederländischen Dokumentarfilmer Thijs Bayens und den pensionierten FBI-Ermittler Vince Pankoke wollte mit modernsten Methoden das Rätsel gelöst haben, wer das Versteck von Anne Frank und ihrer Familie an die Nazis verraten hat. Mit 85- bis 87-prozentiger Sicherheit, so Bayens und Pankoke, soll es der jüdische Notar Arnold van den Bergh gewesen sein. Für diese schwere Anschuldigung, so Wallet, gebe es jedoch "keinerlei seriöse Beweise". Die Argumentation halte nicht stand. Den Ermittlern bescheinigte er vielmehr "Tunnelblick" und "Fehlinterpretationen". Arnold van den Bergh zu beschuldigen, das Versteck von Anne Frank an die Nazis verraten zu haben, sei schlicht falsch.

Der Report zerlegt die Arbeit des Cold Case Teams skrupulös und eindrucksvoll detailliert

In dem 70-seitigen Report Wallets und seiner Kollegen werden die vermeintlichen Fakten und die Methoden des Cold Case Teams tatsächlich skrupulös und eindrucksvoll detailliert zerlegt. Die Anklage lautet, Arnold van den Bergh hätte das Wissen, das Motiv und die Gelegenheit gehabt, das Versteck zu verraten. Der neue Report zeigt dagegen, dass alle diese Unterstellungen auf Quellenmissbrauch und amateurhaften Schlussfolgerungen beruhen.

Über eine Liste etwa mit den Verstecken von Juden in Amsterdam könne van den Bergh allein deshalb nicht verfügt haben, weil es sie wohl nicht gegeben habe. Die Quellen, die das Cold Case Team zum Beweis der Existenz der Liste anführt, geben diesen Schluss aber offenbar gar nicht her. Van den Berghs vermeintliches Motiv wiederum - er soll Anne Frank verraten haben, um seine eigene Familie zu beschützen - sei kein gutes Argument, weil er mit seiner Familie wohl spätestens seit Februar 1944 selbst versteckt lebte. Was hätte es ihm da noch helfen sollen, andere Versteckte zu verraten? Auch die Behauptung, van den Bergh habe Umgang mit hochrangigen Nazis gehabt, lässt sich dem neuen Bericht zufolge faktisch nicht erhärten. Alle Fährten des Cold Case Teams, denen im Report nachgegangen wird, erweisen sich als Sackgassen. Und die Behauptung im Buch, van den Bergh habe Kontakt zur Berliner Reichskanzlei gehabt und sogar ein Gemälde an Hitler verkauft, sei "pure Erfindung".

Der Vertreter der jüdischen Gemeinden in den Niederlanden Ruben Vis wunderte sich in seiner Stellungnahme entsprechend heftig über den Mangel an Reflexion und Sorgfalt des Cold Case Teams. Ein Buch wie "Der Verrat an Anne Frank" sei schließlich "Wasser auf die Mühlen" von Antisemiten und Verschwörungserzählern. Mirjam de Gorter, die Enkelin Arnold van den Berghs, gab in ihrer Rede wie jüngst auch im Interview mit dem Spiegel Einblick in den Umgang des Cold Case Teams mit ihr im Verlauf der Recherche. Zuerst habe man ihr Respekt und Interesse an der Wahrheit vorgegaukelt, später seien jedoch alle Informationen von ihr, die nicht ins Bild gepasst hätten, im Buch unterschlagen worden: "Das ist, was ich Verrat nenne." Drei Tage vor der Veröffentlichung, so de Gorter im Spiegel, habe sie Pankoke am Telefon vor vollendete Tatsachen gestellt und auf ihre Frage nach handfesten Beweisen wieder bloß das anonyme Schreiben aus der Nachkriegszeit erwähnt.

Ihren Vortrag beendete sie mit dem dringenden Appell an HarperCollins USA, wo das Buch im Original im Januar erschienen war, und alle anderen beteiligten Verlage und Filmemacher: "Nehmen Sie das Buch aus der Welt und stoppen sie alle Filmprojekte oder Fernsehserien mit dieser Pointe. Sie beschmutzen damit den Namen Anne Frank, fälschen Geschichte und tragen zu großer Ungerechtigkeit bei." Darauf reagiert hat der amerikanische Großverlag bislang allerdings nicht.

Unklar bleibt vorerst auch, wie es nun mit der deutschen Ausgabe des Buches weitergeht. Ursprünglich sollte sie unter dem Titel "Der Verrat an Anne Frank" am 20. März erscheinen. Im Februar hatte der deutsche HarperCollins-Chef Jürgen Welte diesen Termin mit Verweis auf weitere eingehende Prüfung des Manuskripts abgesagt, an einer Veröffentlichung aber festgehalten. Auch von Welte gibt es zu den aktuellen Entwicklungen bislang keine neue Stellungnahme. Die Ankündigung der deutschen Ausgabe samt dem geplanten Cover ist allerdings auf Amazon inzwischen nicht mehr auffindbar. Es bleibt zu hoffen, dass sich Welte und seine Gutachter die Widerlegung von Wallet und Kollegen sehr genau ansehen. Sie ist auf der Internetseite spui25.nl kostenlos und in voller Länge für jeden abrufbar.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusKontroverse um Anne-Frank-Buch
:Ein Buch, das es nicht geben sollte

Die Umstände der Festnahme Anne Franks eignen sich schon kaum für ein populäres Sachbuch. Die Sache allerdings als True Crime Story anzulegen, ist gewissenlos.

Von Jens-Christian Rabe

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: