Ukrainisches Tagebuch (XXXV):Schlafsäcke im Büro

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Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Überall im Land wird Ausrüstung für die Soldaten gesammelt: das ukrainische Tagebuch.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Seit einigen Tagen beschäftigt hauptsächlich ein Thema das Universitätspersonal: die ausgebliebene Gehaltszahlung. Das Gehalt wird stets in zwei Raten überwiesen, eine davon bis zur Monatsmitte. Jetzt heißt es, vor dem Monatsende wird nicht mehr kommen. Die Situation ist landesweit so. Wenn man realistisch denkt, so versteht man, dass es nicht anders hätte kommen können. Das Bruttoinlandprodukt in der Ukraine wird in diesem Jahr um circa 30 Prozent sinken, das ist die Prognose der Wirtschaftsexperten. Möge es dabei bleiben. Wie viele industrielle Objekte noch zerstört werden, kann keiner sagen. Bereits vor einem Monat wurde vom Rektorat angekündigt, dass ab Juni alle Zuschüsse gecancelt werden würden, dabei waren die Universitätsgehälter sowieso nicht üppig, um nicht zu sagen, dass sie angesichts der Preise bei vielen Stellen eher taschengeldmäßig wirkten. Eine logische Folge dessen war ein Brain-Drain, wenn man nüchtern denkt, muss man mit der Steigung dieser Tendenz rechnen.

Bei einer Rumänienfahrt traf ich direkt hinter der Grenze eine ehemalige Anglistik-Studentin von mir. S. war eine der besten ihres Jahrgangs, bekam nach dem Studium selbst eine Stelle am Lehrstuhl, unterrichtete Englisch privat nebenbei, übersetzte einige Male auch für unsere Projekte. Als wir uns auf der rumänischen Seite sehen, sind wir hocherfreut und umarmen uns. Dann sagt S., sie habe ihre Stelle kurz vor dem Krieg gekündigt und sich um ein kanadisches Visum bemüht. Nach dem Kriegsausbruch ging sie nach Rumänien, betätigt sich nun als Freiwillige, aber ihre Reise steht unmittelbar bevor, das Visum hat sie gerade erhalten. Ihr Weggang fühlt sich für mich schmerzhaft an, wie ein kleiner persönlicher Verlust. Vermutlich werde ich noch von vielen anderen hören, dass sie sich für ein neues Leben im Ausland entschieden haben.

Was man nicht mehr braucht, gibt man kostenlos ab und hilft damit anderen beim Überleben

Geldsorgen wird wohl ein Dauerthema in den kommenden Monaten sein. Es gibt aber auch fast verrückte Geschichten dazu, wie die von einer anderen S., die ich zufällig treffe, als ich eine Taschenübergabe mache. Auf Facebook gibt es eine aus meiner Sicht sehr nützliche lokale Gruppe: Re-Use. Dort gibt man kostenlos ab, was man nicht mehr braucht, alles Mögliche geht weg - von Kleidern, Schuhen und Technik bis hin zu kaputten Dingen, die geschickte Hände wieder zum neuen Leben erwecken. Ich konnte schon vieles loswerden, zuletzt eine neue geschenkte Tasche, die mir zu klein war, weil kein DIN-A4-Ordner da rein passte.

Bei der Übergabe treffe ich eine Frau um die 60, sie bedankt sich, will aber anscheinend etwas erzählen. Ihre alte Tasche sei schon so unansehnlich, dass sie sich derer schäme. Ich persönlich finde die Tasche gar nicht so schrecklich, freue mich aber, dass die neue der Dame offenbar gut gefällt. S. erzählt, sie sei gebürtig aus Tscherniwzi, lebte und arbeitete nach ihrem Studium jedoch in Belarus, in Gomel. Seit Herbst ist sie im Ruhestand und kam zurück nach Tscherniwzi, um ihre alte Mutter zu pflegen. Alles sei so schön und gut gewesen, sie bezog ihre belarussische Rente und konnte die belarussische Geldkarte in der Ukraine überall verwenden. Jetzt kommt sie an ihr Konto nicht mehr ran, weil die Bank von der SWIFT abgeschaltet ist, nach Belarus kann sie nicht reisen und die Karte ist nur noch ein Stück Plastik. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt nun von der bescheidenen Rente ihrer Mutter. Deswegen müsse sie ab und an bei Re-Use "betteln" gehen.

Mir wird einmal mehr deutlich, wie viele einzelne persönliche Existenzen durch den Krieg bedroht oder erschwert werden, selbst wenn man nicht direkt durch Bomben oder Raketen in Lebensgefahr ist. Das Ausmaß dieser Katastrophe ist ohnehin nicht begreifbar, aber es wird immer wieder greifbarer, auch im universitären Kreis. Etliche männliche Kollegen aus der Verwaltung, aber auch Dozenten sind eingezogen, im Büro vom Leiter des International Office S. finden sich stets ein paar Schlafsäcke, Isomatten, Kampfstiefel, taktische Erste-Hilfe-Kästen und Handschuhe - Dinge, nach denen gefragt wird, wenn wir von jemanden hören, dass er mobilisiert wird. Bevor man diese Ausrüstung in seiner Militäreinheit bekommt, ist es empfehlenswert, wenigstens das Nötigste dabei zu haben. Oder es sind Anfragen von den Kolleginnen, deren Männer oder Söhne bereits an der Front sind - von dort wird der Bedarf an Lebensmitteln und Medikamenten gemeldet. Heute beispielsweise geht einiges nach Odessa und Charkiw. Uns sind solche Anfragen viel lieber als die Meldungen, die man in den lokalen Nachrichten inzwischen buchstäblich täglich liest: "Helden der Bukowina: Im Kampf um den Ort N. ist der Soldat N.N. gefallen. Er hat seine Pflicht gegenüber seinem Heimatland heroisch erfüllt."

Oxana Matiychuk kommt am 29. Mai ins Münchner Lustspielhaus - und Iris Berben liest aus dem "Ukrainischen Tagebuch". Alle Infos auf www.sz-erleben.sueddeutsche.de

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