Ukrainisches Tagebuch (XXXIV):Fast ein Wunderkind

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Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Ein Student unserer Autorin, ein begabter Literaturwissenschaftler, will sich zum Armeedienst melden.

Auf meine Frage wegen der Endfassung der Bachelorarbeit bekomme ich von meinem Studenten I. per E-Mail eine Antwort. Die Nachricht muss ich zweimal lesen, um mich zu vergewissern, dass ich richtig verstehe, was er schreibt. "Ich arbeite heute und morgen noch daran, um den Text fertigzustellen, aber morgen Abend reise ich nach Kiew und will versuchen mich der dortigen Militäreinheit vom Asow-Regiment anzuschließen. Ich weiß noch nicht, ob ich im Stab bleiben oder den Kurs des jungen Kämpfers machen würde." Eine solche Entscheidung mag in der Kriegszeit nicht besonders überraschend sein, doch wäre I. der letzte von meinen männlichen Studierenden, dem ich das zutrauen würde. I. war fast ein Wunderkind in seinem Studiengang Literaturgeschichte und Literaturtheorie. Er schloss parallel ein dreijähriges Psychologiestudium in Wien ab, spricht fließend Englisch, sein Bildungshorizont reicht von Aristophanes bis Slobodan Šnajder, in seiner Bachelorarbeit behandelte er Julio Cortázar und hatte ein Stipendium in den USA für sein weiteres Masterstudium in Aussicht. Er ist ein reifer Mensch, ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass sein Entschluss kein spontaner war. Ich schreibe ihm zurück, dass ich mir sehr wünschen würde, wenn solche klugen Köpfe wie er vor allem der Wissenschaft vorbehalten würden, habe jedoch einen großen Respekt vor seiner Entscheidung. Ein späteres kurzes Zoom-Gespräch bestätigt meine Vermutung, dass es sich um einen ausgereiften Gedanken handelt. Wie er allerdings mit der Realität seines neuen Lebens zurechtkommen wird, bleibt erst einmal offen.

Unterdessen meldet sich "meine" O. aus Saporischschja. Sie sind gut angekommen und suchen eine Unterkunft, momentan sind sie bei Bekannten, zu dritt in einem kleinen Zimmer. Lange können sie so nicht wohnen, aber sie freuen sich alle, der Sohn ganz besonders, es ist immerhin eine vertraute Gegend. Ihr Zuhause ist gerade mal 50 Kilometer entfernt - und für sie unerreichbar. Ich muss dabei an gut gemeinte Vorschläge denken, wie zum Beispiel "einen geordneten Rückzug aus den durch Russen besetzten Territorien" als eine vermeintliche Möglichkeit "dem Krieg ein Ende zu setzen". Als ob man dadurch wirklich "geordnete" Verhältnisse schaffen könnte. Aber davon abgesehen: Die individuelle, persönliche Dimension eines solchen Manövers wird natürlich nicht mitgedacht. Das, was man aus der Ferne als "Territorien" oder "Gebiete" bezeichnet und wahrnimmt, ist für betroffene Menschen ihr Lebensraum, ihre Heimat, ihre Erde, ihr Boden unter den Füßen, die Gräber ihrer Vorfahren, ihre Gärten und Höfe, an denen Kindheitserinnerungen hängen, wo ihre Kinder und Enkel aufwuchsen, wo man jede Ecke, jeden Baum und alle Nachbarn kennt. Das sind ihre Sehnsuchtsorte. Und nein, nicht alle träumen davon, ein neues Leben "im Westen" aufzubauen, obwohl es für viele auch eine Option ist.

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Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Eine alte Frau weint und küsst die geschmuggelten Medikamente

O. schreibt, dass die Medikamente, die sie aus Tscherniwzi längst geschickt hat, endlich tatsächlich in Wassyliwka sind. Durch jemanden praktisch reingeschmuggelt. "Meiner Direktorin, die im Ort blieb, erklärte ich am Telefon, was für wen ist. Verteilt wurden sie heimlich, sonst könnte man Probleme bekommen. Die ukrainische humanitäre Hilfe steht unter strengem Verbot." O. schickt ein paar Fotos mit Kommentaren. Eine alte Frau, die "weinte und die Medikamente küsste", "ein taubes Mädchen, die dringend neue Arzneien brauchte", ein Junge mit Trisomie 21, "unser schöner braver Mann". Dann kommt auch ein Foto mit dem Sohn und einem Hund. Der aus den Trümmern gerettete Hund Druschok ist jetzt der beste Freund von R.. Wir verbleiben dabei, dass wenn sie wieder mal Medikamente oder das Geld dafür braucht, sie sich bei mir meldet.

Mein Mitbewohner M. hat durch den Kontakt mit der Prorektorin einer Kiewer Universität den Hinweis bekommen, dass ein aus der Region Kiew nach Lwiw evakuiertes Kinderheim Sommerkleidung für circa 30 Kinder braucht. M. nimmt den Kontakt mit der Ansprechperson auf, nach wenigen Stunden kommt eine Liste mit 24 Kindernamen samt Geburtstagsdaten und Größe sowie einem Kostenvoranschlag. Ein Laden würde fünf Prozent Rabatt auf jedes Stück gewähren. Im digitalen Zeitalter geht alles schnell: Ich überweise den Geldbetrag aus der zweckgebundenen Spende und zwei Stunden später bekommen wir schon Fotos. Es sind Teenager, die sich über die neuen Sachen sichtlich freuen. Schöne junge Gesichter. M. sagt, was mir erst gar nicht einfällt: Es ist für sie bestimmt auch deswegen eine besondere Freude, weil sie sich die Sachen selbst aussuchen durften. Ein kleines Shoppingerlebnis. Sonst bleibt so etwas Kindern in ukrainischen Kinderheimen auch in Friedenszeiten eigentlich vorenthalten.

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Oxana Matiychuk kommt am 29. Mai ins Münchner Lustspielhaus - und Iris Berben liest aus dem "Ukrainischen Tagebuch". Alle Infos finden Sie hier .

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