Ukrainisches Tagebuch (XV):Wie gut, dass Menschen ins Restaurant gehen

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Oxana Matiychuk arbeitet an der Universität von Tscherniwzi (Czernowitz) im Westen der Ukraine. (Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Vielleicht soll die Welt von diesem Krieg ermüden. Hoffentlich nicht, aber eine Routine stellt sich ein - von Hilfslieferungen, Mikroschicksalen und neu entstandener Diversität.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Heute ist der 24. März, ein kleines Jubiläum der "Sonderoperation", die laut russischer Regierung absolut nach Plan läuft. Gut zu vernehmen, dass alles planmäßig verläuft, denn es gab auch andere Einschätzungen von Nicht-Eingeweihten: Dass die Russen etwa in 48 Stunden eine Siegesparade in Kiew führen wollen, dass sich der Präsident nach Westen absetzt oder sich ergibt, dass die endlich entnazifizierten Ukrainerinnen und Ukrainer stundenlang auf den Straßen tanzen und russische Befreier mit Brot und Blumen begrüßen. Selbst in einer privaten Mail an mich mit einem Unterkunftsangebot (weil es vernünftig wäre, das Land zu verlassen) steht: "Ich denke, dass in drei Wochen die russische Armee die Ukraine besetzt haben wird." Die Bilanz sollen nun andere ziehen - Militärexperten, Politologen, Politiker.

Es stellt sich eine gewisse Routine ein - man erledigt viele Dinge nebenbei und ohne emotionalen Aufwand

Vielleicht besteht der russische Plan auch darin, dass die Welt von diesem Krieg ermüden soll und sagt, "schaut, wie ihr das selber schafft, ihr lieben Ukrainerinnen und Ukrainer". Das wird ganz so hoffentlich nicht passieren, aber es ist klar, dass sich eine gewisse Müdigkeit ausbreitet, eine Nachricht auf Whatsapp besagt genau das: "Hier verdrängt man langsam alles und vergisst dabei fast Euch." Wir hier im Hinterland dürfen nichts verdrängen - nur so viel, wie es zum Durchhalten nötig ist, aber es stellt sich tatsächlich eine gewisse Routine ein. Die bedeutet auch, dass man viele Dinge schnell, nebenbei und ohne großen emotionalen Aufwand erledigt. Während meine Studierenden kurz in die Gruppenarbeit gehen, beantworte ich die E-Mail wegen 1000 Garnituren Bettwäsche, die gekauft werden sollen; die zwei Waschmaschinen bezahlen wir auf jeden Fall, aber diese aussuchen sollen bitte die Elektriker, die mehr Ahnung davon haben, ob man sie im Wohnheim gut anschließen kann. Und eine wichtige Hilfslieferung mit Insulin aus dem rumänischen Iaşi kann hoffentlich auch morgen nach Czernowitz starten. Alles wird aus den Spenden fürs Netzwerk Gedankendach bezahlt, vielen Dank, liebe Partner vom IKGS und allen, die gespendet haben! Ein paar Studenten bieten sich für das Ausladen und Sortieren der Hilfsgüter an, auch schön, Hände werden wir brauchen.

"So viele Mikroschicksale in jeder Geschichte", schrieb mir eine Freundin aus Berlin. Diesen Ausdruck greife ich auf, danke, liebe C.B.! Ein Mikroschicksal geht so: Mein Gast M. hat von einem bekannten Deutschen das Angebot, eine ukrainische Familie, Frau mit Kind oder zwei Kindern, aufzunehmen. Bisher hat sich keine gefunden. Während einer längeren Taxifahrt kommt M. mit dem Taxifahrer ins Gespräch. Der Fahrer meint, er habe eine Nachbarin, deren Tochter mit Down-Syndrom an Epilepsie leidet. Die Frau würde gern ausreisen, hat aber keinerlei Kontakte im Ausland. Der Zustand der Tochter verschlechterte sich, seit sie während des Luftalarms in den Schutzraum müssen. M. nimmt sich der Angelegenheit an. Am Abend ist alles so weit geklärt. Die Frau muss nur nach Uschgorod kommen, von dort wird sie mit einem deutschen Auto abgeholt. Zwei Ärzte sind bereit dahinzukommen, um Mutter und Kind in Empfang zu nehmen und in die Nähe von Passau zu bringen. In einer Klinik wird die Tochter untersucht. Hoffentlich funktioniert alles im temporären neuen Zuhause zwischen Gastgebern und ukrainischen Gästen. Eine zufällige Begegnung, die gute weitreichende Folgen auf der Mikroebene haben kann.

Im Bus sehe ich neue Gesichter, man hört ein anderes Russisch, ein anderes Ukrainisch

Als ich vor ein paar Tagen nach dem Feierabend aus der Universität gehe, fragt mich eine junge Frau an der Straßenkreuzung, wie sie zum "Rita Steinberg" komme. "Rita Steinberg" ist ein Restaurant mit gehobener jüdischer Küche. Ich zeige die Richtung und denke im ersten Moment, wer geht jetzt schon ins Restaurant ... Der zweite Gedanke ist - wie gut, dass es Menschen gibt, die ins Restaurant gehen, dass die Gastronomie arbeitet, dass es Nachfrage gibt. Am nächsten Tag höre ich zufällig, "Rita Steinberg" ist meistens ausgebucht. Schön für die Angestellten, schön für den netten Kellner, den ich manchmal draußen beim Rauchen sehe und grüße.

Ukrainisches Tagebuch (XIV)
:Wir sind nicht bereit, uns zu ergeben

Immer wieder heißt es, das wäre doch die einfachste Lösung, den Krieg zu beenden. Leider verstehen diese Stimmen nicht, worum es der ukrainischen Nation geht.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Zwei junge Frauen in teuren hellen Klamotten mit einem ebenfalls teuren kleinen Hund mit weißem Fell scheinen an der Endhaltestelle, wo mein Gast M. und ich aussteigen, etwas deplatziert. Der Anblick wirkt belustigend. Hier ist es ja keine "Stadt" mehr, sondern Land. Manchmal sieht man ein Fuhrwerk auf der Straße fahren. Hähne krähen, Hunde bellen, an jedem Haus ist ein Stück Garten, Anwohner gehen mal schnell etwas einkaufen, ohne groß die Hauskleidung zu wechseln. Mit Zierhund und adrett gekleidet fällt man auf. Auch im Bus sehe ich täglich neue Gesichter. Man hört öfters ein anderes Russisch - ein gepflegteres, ohne bukowinischen Akzent. Auch ein anderes Ukrainisch - ohne dialektale Einsprengsel und typische aus dem Rumänischen entlehnte Wörtchen, die man außerhalb der Region nicht unbedingt versteht. Ich freue mich über diese plötzlich entstandene diversity, nur der Anlass ist leider sehr traurig. Übrigens wäre Czernowitz zurzeit ein spannender Forschungsgegenstand, kulturanthropologisch gesehen. Es sind interessante Akteure aus der Kultur- und Literaturszene hier, Leute aus der IT-Branche, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von verschiedenen Hochschulen. Ich bedauere es, keine Zeit für die "Feldforschung" zu haben.

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