Netzkolumne:Die Marvelisierung des Krieges

Lesezeit: 2 min

Selenskij als Captain America (Foto: @seladadefruta)

Brauchen "die Guten" Propaganda? Auf Twitter trendet gerade Selenskij im Kostüm von Captain America. Und neben Generalsekretären äußern sich auch Tiktok-Stars zum Krieg.

Von Michael Moorstedt

In der rechten Spalte des Bildschirms fasst Twitter jene Hashtags zusammen, die momentan am heißesten laufen. "Trends für Dich", heißt es einladend. Dies ist der Ort, um an den Zeitgeist anzuknüpfen, um im Gespräch zu bleiben. Hier also ein kurzer Auszug der Themen, die momentan im deutschsprachigen Twitter ganz oben auf der Trendliste stehen: Explosionen, Panik, Radioaktivität, Atomkrieg.

"Twittere deine Antwort", fordert die Plattform den Nutzer auf. Was ist deine Meinung zum nuklearen Holocaust? Selten waren die Tage dunkler als heute. Und auch wenn es wahrlich wichtigere Dinge zu besprechen gibt, muss angemerkt sein, dass das Publikum auf den sozialen Medien angesichts des Krieges nicht die beste Figur abgibt.

Viele nutzen Twitter derzeit als Ort, um den eigenen Emotionen Raum zu geben. Da vermischen sich konkrete Ängste mit diffusen Spekulationen. Tiktok-Stars werden genauso zur Lage der Dinge befragt wie die Generalsekretäre großer Verteidigungsbündnisse. Die Online-Plattformen des sozialen Web verflachen die hochgeladenen Inhalte, indem sie Videos von bombardierten Städten und fliehenden Zivilisten mit Aufmerksamkeitsmetriken versehen und andere Nutzer dazu auffordern, diese zu teilen, zu kommentieren oder - noch schlimmer - dem "Trend" die eigene Deutung hinzuzufügen.

Was daran noch Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit ist und was bereits knallhartes Kalkül, um noch ein paar positive Affekte in Form von Likes und Retweets einzuheimsen, ist kaum noch zu unterscheiden. So dienten die Meme-Vorlagen, auf denen sonst die eigene Meinung zur neuesten Hollywood-Affäre kopiert wird, in der letzte Woche dem Krieg: Popkultur und ihre Protagonisten, Superhelden und die Belegschaft aus "Herr der Ringe", Nato und Putin. Die Ereignisse und Kataklysmen der Weltpolitik sind nur weiterer Content, der konsumiert werden kann und auf den wiederum öffentlich reagiert werden muss.

Die Alternative: angesichts der Ungeheuerlichkeiten einfach mal nichts posten

Und so werden Ausschnitte aus dem Superhelden-Film Avengers: Endgame zur Illustration der einzelnen Konfliktparteien benutzt. Wolodimir Selenskij wird da als Captain America dargestellt. Die gesichtslosen Bösewichte aus der Special-Effects-Abteilung der Marvel Studios sind die russische Armee. Mit dem Vorwurf der Geschmacklosigkeit konfrontiert, wehrt man sich mit dem Hinweis, dass ja auch "die Guten" Propaganda benötigen würden. Immerhin beziehe man Stellung. Dass es noch eine Alternative gibt, nämlich angesichts der Ungeheuerlichkeiten einfach mal nichts zu posten, scheint längst in Vergessenheit geraten zu sein. Sich nicht in einer Scheinöffentlichkeit zu äußern, ist ja nicht gleichbedeutend mit Indifferenz.

Stattdessen scheinen sich viele Vorurteile gegenüber den Social-Media-Nutzern zu bestätigen. Handelt es sich hier schlicht um eine Zielgruppe, der die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Realität und Fiktion abhandengekommen ist? Weil sie die Krisen der Welt eben Zeit ihres Lebens nur medial vermittelt bekamen? Weil ihr doch die früheren Gatekeeper abgehen?

Die Memeifizierung und Marvelisierung eines gerade stattfindenden Krieges, den man so als austauschbares Stück Unterhaltung darstellt, hat nach Ansicht des britischen Autors Hussein Kesvani weniger mit "einem Mangel an Empathie oder Verständnis für menschliches Leid zu tun, sondern ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass die Plattformen das tun, wofür sie geschaffen wurden, nämlich alles als Inhalt zu produzieren". Es scheint eine stattliche Zahl von Internetnutzern zu geben, deren Wahrnehmung nach einem Jahrzehnt des Kontakts mit viralen Medien so sehr von trendenden Inhalten verdreht ist, dass sie glauben, dass die öffentliche Reaktion auf populäre Internetkultur eine Art von moralischer Pflicht sei.

Nicht umsonst ist eines der beliebtesten Formate im sozialen Netz sogenannter Reaction-Content, hier postet man also live die eigene Reaktion auf zuvor Gesehenes. Das bringt die Grunderfahrung des Internets auf den Punkt. In einer potenziell unendlichen Abwärtsspirale beobachtet man Bildschirme, auf denen Menschen Bildschirme beobachten.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: