Türkische Chronik (XXXVII):Jeder ehrliche Intellektuelle musste der AKP eine Chance geben

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Der Gegner seinerzeit war das türkische Militär, dessen Dominanz in der Politik man zurückdrängen wollte. Und die Vertreter dieser alten Ordnung versuchten auch wiederholt, den Einfluss der AKP zu begrenzen, ermutigt unter anderem durch das Scheitern der Wiedervereinigung Zyperns im Jahr 2004. Und dieser Kampf gegen das Militär erklärt, wie Steven Cook richtig feststellt, warum Erdoğan in den folgenden Jahren staatliche Institutionen nutzte, um das Establishment zu bekämpfen und mit der Zeit auch die Presse, so Cook, "gleichsam zu seinem Informationsministerium machte".

In einer neuen Dokumentation über Erdoğan, "L'Ivresse du Pouvoir" von Guillaume Perrier und Gilles Cayatte, erklärt einer der Gründungsväter der AKP, der kurdische Politiker Dengir Mir Mehmet Firat, die politischen Umstände hätten erst das Schlimmste aus Erdoğan herausgeholt; und je einsamer er sich an der Spitze gefühlt habe, desto despotischer sei er mit der Zeit geworden.

Der Sarkasmus, mit dem jetzt behauptet wird, alle seien Idioten gewesen, ist beleidigend

Schwarz-Weiß-Malerei aus heutiger Sicht hilft nicht weiter. Es stimmt zwar: Es gab etliche, besonders bei den Kemalisten und Ultrasäkularisten, die kategorisch die Aufrichtigkeit von Erdoğan bestritten, wobei sie oft die demokratische Basis ignorierten, die seine Partei repräsentierte. Für andere aber, zu denen auch ich zählte, war diese scharfe Ablehnung fragwürdig. Jeder ehrliche Intellektuelle musste damals der AKP eine Chance geben. Jeder schrieb sozusagen einen Scheck über eine unterschiedliche Summe an moralischer Investition. Und als Erdoğan begann, seine Haltung zu ändern, scherte jeder einzelne Intellektuelle irgendwann aus und definierte für sich jeweils das Ereignis, das ihn sagen ließ: Genug, jetzt hat er den Kredit endgültig verspielt.

Für mich persönlich zum Beispiel war die Reformpolitik der AKP am Ende, als Erdoğan im Januar 2011 Kars besuchte, dort an der türkisch-armenischen Grenze eine "Statue der Freundschaft" des bedeutenden Bildhauers Mehmet Aksoy erblickte und anordnete, das "monströse" Monument müsse zerstört werden, was auch umgehend befolgt wurde.

Ich glaube nicht daran, dass es von vornherein ein versteckte Agenda gab. Die säkulare Opposition hat es nicht vermocht, sich selbst zu reformieren, während sich die EU einschließlich Angela Merkel nicht zu einer klaren Strategie für eine Mitgliedschaft der Türkei durchringen konnte. Das raffinierte alte Establishment der Türkei wiederum schaffte es, sich eine gewisse Teilung der Macht mit Erdoğan zu erschleichen, wie der Zustand der Türkei nach dem Putschversuch 2016 gezeigt hat.

Alles war klar, von Anfang an? Nein. Und viele, die Urteile über die Türkei fällten, verfolgten damit eigene politische Absichten. Waren alle Berichte der EU über Reformfortschritte der Türkei gelogen? Nein. Der Sarkasmus, mit dem jetzt behauptet wird, alle seien Idioten gewesen, ist beleidigend. Besser sind jetzt illusionslose Analysen - vielleicht ist die Geschichte der AKP ein Feldstudie, die uns heute vorführt, dass politischer Islam und Demokratie nicht vereinbar sind. Aber wenn es so ist, dann muss man trotz allem auf eine neue demokratische Alternative hoffen - anstatt eine Rückkehr zum alten Regime der kemalistischen Türkei zu beschwören.

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Johan Schloemann.

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