Türkische Chronik (XXII):Erdoğan nähert sich seinem Ziel

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Erdoğan scheint in seinem Streben nach purer Macht durch nichts aufzuhalten zu sein. (Foto: dpa)

Die Verfassungsänderung, die Erdoğans Macht zementieren wird, steht bevor. Sie ist in vielerlei Hinsicht politisches Dynamit.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan scheint nicht von seinem Kurs abzuweichen. Die jüngsten Dekrete hatten zur Folge, dass 649 Akademiker willkürlich entlassen und 83 Vereine geschlossen wurden, darunter das Kurdische Institut, das wegen seiner verdienstvollen Arbeit mit der kurdischen Sprache und Literatur weitgehend wertgeschätzt wurde. Im öffentlichen Sektor wurden 8200 Menschen entlassen, seit dem gescheiterten Putsch sind es nun insgesamt 135 000 Kündigungen.

Aber wir kritische Journalisten, die unsere Arbeit fortführen, müssen den Löwenanteil tragen: Mit einem neuen Gesetzesentwurf mahnt Erdoğan jene, die die Türkei aus Angst vor Verfolgung verlassen haben, innerhalb von drei Monaten zurückzukommen - andernfalls verlieren sie ihre Staatsbürgerschaft, ihr Vermögen, ihre Rechte als türkische Staatsbürger. Solche Maßnahmen sind bekannt aus der Sowjetunion, eine bittere Erinnerung für alle Exilanten, die sich entschieden haben, repressive Politik öffentlich zu kritisieren und auch für uns Journalisten, deren Pflicht es ist, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Die Umsetzung der Maßnahme steht noch aus, sie wird aber bald Realität sein.

Und das ist noch nicht alles: Am Mittwoch forderte ein Staatsanwalt in Istanbul, dass die Journalisten der türkischen Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar und Erdem Gül, wegen "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" zu jeweils zehn Jahren Haft verurteilt werden sollen. Noch dramatischer ist, dass er lebenslängliche Haft für Enis Berberoğlu forderte, einen ehemaligen Journalisten, der nun Abgeordneter der Mitte-links-Partei CHP ist. Der Hintergrund: Die Journalisten enthüllten vor mehr als einem Jahr die geheime Bewaffnung syrischer Islamisten durch die Türkei.

Es scheint nicht mehr viel zwischen Erdoğan und seiner Vision des Regierens zu stehen. Vielleicht gibt es aber doch ein Hindernis. Die rapide fortschreitende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage wirft einen dunklen Schatten auf Erdoğans wichtigstes Ziel, die Verfassungsreform für ein Präsidialsystem. Während das Parlament zutiefst gespalten und in einem Debattenmarathon gefangen ist, schleppt sich die türkische Währung von einem Rekordtief zum nächsten, Ratingagenturen senken die Türkei auf Ramschniveau. "Die Türkei kann sich weder ökonomische noch politische Fehltritte leisten. Im Moment ist sie auf gutem Wege, beides zu tun", schreibt die Financial Times.

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Den Präsidenten interessiert gerade nur eines: seine Macht. Der wirtschaftliche Aufschwung ist Geschichte. Im Land herrscht ein Klima der Angst.

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Trotzdem scheint Erdoğan in seinem Streben nach purer Macht durch nichts aufzuhalten zu sein. Parteinahe Quellen berichten, das Referendum als großes Finale, das Erdoğan die erhoffte absolute Machtstellung bis 2029 sichern werde, sei im April zu erwarten. Ob die Wahl mithilfe der Notstandsgesetze ablaufen wird, ist noch nicht bekannt. Die Umstände sind so undurchschaubar und beängstigend, dass niemand einen klaren Blick dafür hat, was wann und wie passieren wird. Wird die Türkei nun tatsächlich in die Liga zentralasiatischer Autokratien absteigen?

Das Schlimmste ist, dass niemand Genaueres über den Entwurf für die Verfassungsänderung weiß. Aktuelle Umfragen zeigten, dass 36 Prozent der Bürger, die über das Referendum abstimmen werden, wenig über seinen Inhalt wissen. 28 Prozent der Bürger gaben an, sie seien sehr schlecht informiert, 14 Prozent hielten sich für schlecht informiert. In anderen Worten: 78 Prozent der Bevölkerung haben kaum eine Vorstellung davon, was die vorgeschlagenen Änderungen für das Land bedeuten würden.

Es gibt praktisch keinen öffentlichen Diskurs, außer mit jenen, die Erdoğans Linie propagieren. Ein Medien-Blackout, niemand berichtet über das Maßnahmenpaket, nicht einmal die Parlamentsdebatte wird im Fernsehen übertragen.

Dabei ist der Gesetzesentwurf in vielerlei Hinsicht politisches Dynamit. Erdoğan könnte Minister und Top-Bürokraten ernennen und entlassen, wie er will. Der Posten des Premierministers würde verschrottet, Erdoğan wäre alleiniger Chef der Exekutive. Er hätte dadurch die Macht, den Notstand ausrufen, nach Belieben Verordnungen zu erlassen und das Parlament zu entlassen. Die "Checks and Balances" würden enorm geschwächt, die Zahl der höchsten Richter und die Schlüsselfiguren der Judikative auf ein Minimum reduziert. Höchst beunruhigend für die Opposition ist vor allem, dass die Präsidenten- und Parlamentswahlen künftig am selben Tag stattfinden sollen. Ob die Zehn-Prozent-Hürde für Parteien beibehalten wird, ist noch völlig unklar.

Ein prominenter Politiker der oppositionellen CHP verglich die Situation kürzlich mit einem Fußballclub: "Stellen Sie sich den Vorsitzenden eines Fußballclubs vor. Wenn ein Spieler seines Teams ein Tor vermasselt, kann er ihn aus der Mannschaft werfen. Wenn die gegnerische Mannschaft gewinnt, kann er sie dafür bestrafen. Und wenn sein Team die Meisterschaft nicht gewinnt, kann er den ganzen Wettkampf einfach abblasen!"

© SZ vom 13.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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