Die Nacht zum Sonntag war für uns alle sehr lang, wir saßen gebannt vor unseren Computern und verfolgten, wie es weitergeht mit der Pressefreiheit. Und wie zur Bestätigung all unserer Ängste wurden am Ende der Nacht sechs weitere Journalisten verhaftet.
Türkisches TagebuchYavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1958 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Alex Rühle.
Ihre Verteidiger rechneten eigentlich damit, dass ihre Fälle erst an diesem Montag verhandelt werden. Sie wurden aber schon nachts nach einem langen Verhör ins Gefängnis gebracht. Alle sechs gehören zur Tageszeitung Zaman, die im Zentrum der Anklage steht, dass einige Medien der "verlängerte Arm der Fetö-Terror-Organisation" seien.
Das richterliche Urteil ist ein Generalangriff auf die freie Meinungsäußerung und die Pressefreiheit. Begründet werden die Verhaftungen mit zwei Argumenten: Zum einen hätten die sechs Journalisten mit ihren Kolumnen und Äußerungen in den sozialen Medien die staatsanwältlichen Untersuchungen gegen die bewaffneten Terrorstrukturen behindert. Außerdem wird ihnen vorgeworfen, dass sie ihre Kolumnen weitergeschrieben hätten, nachdem ihr Chefredakteur Ekrem Dumanlı außer Landes geflohen sei. Seufz.
Im Kern wird ihnen also vorgeworfen, dass sie ihre Meinung geäußert haben. Dem Richter reichte das für eine Verhaftung. Ihre Fälle ergänzen die ohnehin schon lange Liste von Beschwerden gegen die Türkei vor dem Europäischen Menschengerichtshof.
Ganz oben auf dieser Liste steht der Fall des 72-jährigen Schriftstellers und Kolumnisten Şahin Alpay. Er gilt als eine der wichtigsten liberalen Stimmen der Türkei. Alpay hat ernsthafte gesundheitliche Probleme. Dennoch wurde ein Antrag auf Haftentlassung abgelehnt.
62 Journalisten sitzen jetzt in türkischen Gefängnissen
Alle sechs Journalisten, die jetzt neu verhaftet wurden, zählen zum liberalen Spektrum unserer Medienlandschaft. Unter ihnen sind zwei Frauen, Lale Kemal, die sich bei Zaman einen Namen gemacht hat als Gerichtsreporterin, und Nuriye Akman.
Akman arbeitet seit 25 Jahren als Journalistin, ist bekannt für ihre hervorragenden Langinterviews und hat drei Romane veröffentlicht. Laut P 24, einer Plattform für unabhängigen Journalismus in der Türkei, wurden seit der Niederschlagung des blutigen Putschversuchs 29 Journalisten verhaftet. Insgesamt sitzen damit jetzt 62 Journalisten in türkischen Gefängnissen.
Während der langen Nacht des Wartens, von Samstag auf Sonntag, ereilte uns alle noch eine Nachricht, die weitere Ängste schürt: Ali Aslan, ein Kollege, der in Washington DC sitzt, twitterte, dass die Polizei die Frau des Journalisten Bülent Korucu festgenommen hat.
Korucu ist ehemaliger Chefredakteur des Wochenmagazins Aksiyon. Seit er per Haftbefehl gesucht wird, ist er auf der Flucht. Aslan schrieb, die Polizei habe damit gedroht, seine Frau so lange festzuhalten, bis er sich stelle. Korucus Sohn bestätigte diese Nachricht.
Es war wirklich ein düsterer Sonntag.
- "Jetzt droht eine eiserne Zeit" (I)
- "Der Türkei droht das Ende eines unabhängigen Journalismus" (II)
- "Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun" (III)
- "Die Verhaftungswellen hören nicht auf" (IV)
- "Ausnahme ist kein Zustand" (V)
- "Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland" (VI)
- "Die Hexenjagd hat begonnen" (VII)
- "Erdoğan regiert per Dekret - was das heißt, weiß in der Türkei jeder" (VIII)
- "Erdoğan vollzieht den 'zivilen Staatsstreich'" (IX)
- "Erdoğan begünstigt Manipulation und Desinformation" (X)
- "Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie" (XI)
- "Die Türkei nimmt Angehörige in Geiselhaft" (XII)
- "'Sie werden sterben wie Kanalratten'" (XIII)
- "Wo sind die AKP-Mitglieder, die am Putsch teilgenommen haben?" (XIV)
- "Italien sollte sich lieber um die eigene Mafia kümmern" (XV)
- "Warum man Erdoğan nicht trauen kann" (XVI)
- "Du bist als nächstes dran" (XVII)
- "Wir wollen Exekutionen" (XVIII)
- "Jeder ist verdächtig" (XIX)
- "Exodus der türkischen Elite" (XX)
- "Ist es ein Verbrechen, mit einem Reporter verheiratet zu sein?" (XXI)
- "Erdoğan hält die Massen in explosiver Hypnose" (XXII)
- "Es ist Zeit aufzuwachen" (XXIII)
- Türkische Chronik (I): Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert
- Enteignungen wie im Osmanischen Reich (II)
- Haftbefehl ohne Grund (III)
- Man muss die Dinge beim Namen nennen (IV)
- Die alten Foltermethoden sind zurück in der Türkei (V)
- "Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen" (VI)
- Türkei zieht Schrauben der Unterdrückung weiter an (VII)
- "Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"(VIII)
- Erdoğan plant eine Islamisierung der Schulen (IX)
- Was geschah wirklich in der Nacht vom 15. Juli? (X)
- Die Türkei steht kurz vor einem Bürgerkrieg (XI)
- Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten? (XII)
- Verhaftete türkische Journalisten sollten Ehrenbürger werden (XIII)
- Die Kurden verlieren ihre Heimat (XIV)
- Erdoğan fegt sie einfach weg (XV)
- Erdoğan und Trump - Die Zeichen stehen auf hässliche Realpolitik (XVI)
- War der Militärputsch vorhersehbar? (XVII)
- Demokratie in der Türkei - wenn alles zerrinnt (XVIII)
- Russland wird seine Chance nutzen (XIX)
- Das Jahr eines intensiven Albtraums (XX)
- Die AKP erntet, was sie gesät hat (XXI)
- Erdoğan nähert sich seinem Ziel (XXII)
- Der Todeskampf des türkischen Schulsystems (XXIII)
- Jazz war Aktionismus (XXIV)
- Scheidung - und dann? (XXV)
- Sie wollen alle Fremdkörper "entfernen" (XXVI)
- Das Land der Fäulnis (XXVII)
- Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus (XXVIII)
- Die Presse als erstes Angriffsziel (XXIX)
- Prozess als Farce (XXX)
- Die neuen Jungtürken aus Köln (XXXI)
- Berufsverbot für Akademiker (XXXII)
- Dinner mit den Underdogs (XXXIII)
- Das Bangen vor dem Referendum (XXXIV)
- Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei (XXXV)
- Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden (XXXVI)
- Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen (XXXVII)
- Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben? (XXXVIII)
- Bücher in die Verbannung (XXXIX)
- Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik? (XL)
- Wer gegen Erdoğan ist, muss hungern (XLI)
- Jetzt wurde auch noch ein UN-Richter verurteilt (XLII)
- Das Messer hat den Knochen getroffen (XLIII)
- "Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert" (XLIV)
- Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand (XLV)
- Was wir verloren haben, ist schwer wieder herzustellen (XLVI)
- Erdoğan ist das personifizierte Problem der Türkei (XLVII)
- Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten (XLVIII)
- Erdoğans neuer Staat naht (XLIX)