Theater:Zwischen Leben und Toten

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Wutausbruch und Wortgewalt: Das neue Stück des kongolesischen Autors Dieudonné Niangouna am Mousonturm in Frankfurt.

Von Christine Dössel

Ein Gewimmel von halbnackten Menschenleibern auf einem Floß: Sie liegen durch- und übereinander, einige sind tot, andere bäumen sich dramatisch auf, türmen sich zu einer Pyramide der Verzweiflung und des Leids, während das Segel sich bläht und mächtige Wellen auf sie hereinbrechen. Nein, es handelt sich hier nicht um eine Theaterszene und auch nicht um eines der so häufig kenternden Flüchtlingsboote im Mittelmeer, sondern um das Motiv auf einem berühmten Gemälde: "Das Floß der Medusa" (1819) von Théodore Géricault. Eine Reproduktion des Bildes hängt auf der linken Seite der Bühne gut sichtbar im Eck und bildet so etwas wie das Leitmotiv von "Nkenguégi", dem neuen Stück des kongolesisch-französischen Schauspielers und Dramatikers Dieudonné Niangouna. Im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt, wo Niangouna seit Ende 2014 assoziierter Künstler ist, wurde das Stück nun bei einem kleinen "afropäischen Festival" erstmals im deutschsprachigen Raum gezeigt. Die Uraufführung war im November am Théâtre de Vidy Lausanne.

Das Wort "Nkenguégi" bezeichnet eine stachelige, rankende Pflanze, die im Kongo als Schutz vor wilden Tieren um Tiergehege gepflanzt wird. Sie kann allerdings auch dem solcherart geschützten Vieh bei Näherkommen gefährlich werden. Die Umzäunung wird zum Gefängnis - diese Doppelbedeutung ist gewollt.

Das Stück "Nkenguégi" erzählt einerseits von einem Boot, das bei dem Versuch untergeht, illegal nach Europa überzusetzen. Der einzige Überlebende - er trägt den sagenhaften Namen Erdonidus Amandéüs - treibt und monologisiert zwischen Leben, Tod und Toten hoffnungslos dahin: stehend auf ein paar Holzplanken auf der Bühne, umgeben von einem vielstimmigen, sich schon mal kannibalisch anknabbernden "Leichenchor". Gespielt wird Erdonidus nicht etwa von einem der schwarzen Darsteller aus Niangounas Truppe, sondern von Mathieu Montanier, einem schmalgliedrigen Weißen mit Langhaar und Jesus-Aura. Auf einer Videoleinwand über dem "Floß der Medusa" sieht man ihn im Meer treibend, auf- und untertauchend, immer wieder: die Symbolfigur des Stückes, der Schmerzensmann.

Die Havarie ist der zentrale Strang des Stückes: Wie die Hoffnungen auf ein neues Leben jenseits von Afrika untergehen. "Je suis arrivé trop tôt. Trop tard", singt der "Chor der Leichen" in einem heiter-schönen Kanon: "Ich bin zu früh angekommen. Zu spät." Larmoyant ist daran nichts. Niangouna, der sein ausuferndes, ungeheuer textreiches, in jeder Hinsicht erschlagendes Stück selber inszeniert hat (auf Französisch natürlich, in drei Stunden ohne Pause), lässt Workshop-Fröhlichkeit, Gruppendynamik und eine oft undurchschaubare Chaos-Choreografie walten.

Der Autor führt Regie und spielt mit. Er hat eine brachiale Dampfwalzenenergie

So geht der von Erdonidus Amandéüs und den ihn umgebenden Geistern anfangs noch mäandernd poetisch erzählte Schiffbruch nahtlos über in die Geschichte einer Theatergruppe, die gerade das Stück "Das Floß der Medusa" einstudiert und dabei so arg chargiert und persifliert, dass der Regisseur wutschnaubend auf die Bühne stürmt und die Schauspieler herunterputzt: "Ihr taugt alle nichts!" Einen schnauzt er an: "Du kriegst nicht mal einen kongolesischen Neger hin!" Dieser politisch so unkorrekte wie aufgeweckte Regisseur ist niemand anderes als Dieudonné Niangouna, der von dieser Szene an selber mitspielt, seine Akteure anfeuernd mit wildem Fingergeschnippe und Wortgepeitsche. Der Mann aus Brazzaville, Republik Kongo, hat eine brachiale Dampfwalzenenergie. Fast jeder aus seiner Compagnie - sie heißt Les Bruits de la Rue und verweist auf den Lärm der Straße - kriegt einen Monolog, wobei der Text krude Abbiegungen gen Paris nimmt, hin zu einer Studentenparty im 16. Arondissement zum Beispiel, wo Wohlstandsmenschen mit lustigen Tiermasken über "Verkleidung und Reflexion" nachdenken. Oder hinein in das Seeleninnere einer Frau am Fenster.

Den längsten und bedrängendsten Monolog aber hat Niangouna selbst: einen Wortschwallausbruch über Gott und die "Post-Apokalypse" der Welt im Allgemeinen unter besonders krasser Berücksichtigung der Schrecklichkeiten und Absurditäten im pseudo-demokratischen Kongo. Während Niangouna auf der Bühne seine Sätze wie ein manisch Aggressiver herausdonnert, läuft ein Videofilm, in dem man ihn in seiner Heimat Brazzaville sieht, wo er auf der Straße einen Riesenlampion (als Symbol der Sonne) hinter sich herzieht. Ein bisschen wie Diogenes mit seiner Lampe. Andere Szenen in dem Film zeigen, wie ein Geißlein eine Ziege zu Tode penetriert, angetrieben von einem sich amüsierenden Mob. Und wie dann vor einem provisorischen "Kommissariat" Menschen drangsaliert, gedemütigt und erschossen werden.

Man versteht das bei Weitem nicht alles. Der Abend ist erschöpfend lang und schippert oft im Trüben. Was man aber versteht, ist: Da hat jemand eine unbändige Wut auf die Zustände in seinem Land. Und er reagiert darauf mit Wortgewalt, mit Sprach-Salven wie aus einem Maschinengewehr. In Hinblick auf Dieudonné Niangounas Brass müsste man Brazzaville eigentlich mit Doppel-s schreiben: Brassaville. Stadt des Zornes. Dass es die Sprache der einstigen Kolonialherren ist, derer sich der Autor so freibeuterisch furios bedient, die er zuspitzt, mit indigenen Ausdrücken, Slang und eigenen Worterfindungen aufmischt und hochjazzt, bis sich sein Französisch selbst für Franzosen fremdartig anhört, ist die eigentliche Pointe. Und die sitzt.

"Nkenguégi" bildet mit "Shéda" und "Le Socle des Vertiges", die schon beim Festival Avignon zu sehen waren, eine Trilogie des Schwindels, des Taumelns: "La Trilogie des Vertiges". Es geht um alles und nichts, vor allem aber: ums Überleben. Niangouna, Jahrgang 1979, ist darin ein großer Künstler. Als 1997 der Bürgerkrieg ausbrach, Schulen geschlossen und Theater zerstört wurden, gründete er mit seinem Bruder Criss seine Compagnie. Der Bruder zog, als der Krieg anhielt, an die Elfenbeinküste. Dieudonné blieb: "Wenn die Bomben fallen, muss ich reden. Dann kann ich nicht weglaufen." Seither redet er und redet immer weiter.

© SZ vom 09.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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