Theater:Vor der Passion

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„Die Pest“ in Oberammergau: Der Totengräber, gespielt von Rochus Rückel, lacht. (Foto: dpa)

Christian Stückl inszeniert das "Pestspiel" von Oberammergau. Ob die Geschichte wahr ist? Egal! Das Ensemble breitet sie mit Wucht aus.

Von Egbert Tholl

Als Christian Stückl 1987 - damals war er Regieassistent von Dieter Dorn an den Münchner Kammerspielen - zum Spielleiter der Oberammergauer Passionsspiele 1990 gewählt wurde, merkte er bald, worauf er sich da eingelassen hatte. Zu jedem Passionsspiel gehört seit 1932 obligatorisch das sogenannte "Pestspiel", immer im Jahr vor der Passion und mit deren Darstellern, in dem erzählt wird, wie es zu den Passionsspielen kam. 1633 wütete die Pest im Dorf, dessen Bewohner gelobten, alle zehn Jahre das Spiel vom Sterben Christi aufzuführen, daraufhin kam es zu keinem Toten mehr. So die Legende.

In der Realität versuchte Stückl 1989, den alten Text von Leo Weismantel ein wenig von dessen dunkler Plumpheit zu befreien. Holzschnittartigkeit passt ja gut ins Dorf, aber das war Stückl doch zu viel. Viele im Ort sahen das anders, sammelten zahlreiche Stimmen für seine Abwahl, schmierten an die Wand seines Hauses den Spruch: "Totengräber von Oberammergau zieh Leine, sonst bekommst du nasse Beine." Stückl blieb, ließ sich vom Dramaturgen Martin F. Wall eine Neufassung des Textes schreiben, die er selbst weiter bearbeitete und 1999 erstmals inszenierte, damals auf dem Friedhof im Ort, was eine tolle Idee gewesen wäre, hätte es damals im Sommer nicht so viel geregnet.

Stückl bastelte am Text immer weiter, zog mit ihm ins Passionstheater, und da im kommenden Jahre wieder Passionsspiele sind, gibt es dieses Jahr eben "Die Pest": Vor zwei Jahren verließ der Kaspar Schisler Oberammergau, Frau und Kinder, weil er nicht mehr die Kreuze schnitzen wollte, die den anderen im Dorf gefielen. "Das Leiden und Sterben kann nicht schön sein." Also verdingte er sich nach Eschenlohe, wo heute oft Stau ist, weil da die Autobahn endet. Damals jedoch war der Dreißigjährige Krieg, die Gegend wurde von marodierenden schwedischen Truppen heimgesucht, die die Pest ins Land brachten. In Eschenlohe lebte bald nicht einmal mehr eine Ratte, der Schisler beschloss, zum Sterben nach Hause zu gehen. Auch in Oberammergau brannten die Pestfeuer, die anzeigen sollten, dass dort die Seuche wütete. Das war aber eine List, die Fremde fernhalten sollte. Der Schisler jedoch nahm es als Zeichen, als selbst Angesteckter seine wohl ebenfalls kranke Familie aufsuchen zu können. Weil im Sterben eh alle gleich sind.

Gute Geschichte, ob sie wahr ist, weiß heute niemand. Ist auch egal. Stückl jedenfalls breitet sie mit Wucht im Passionstheater aus. Es ist ein großes, dörfliches Welttheater, Stefan Hageneier hat ein Labyrinth aus schwarzen Bretterverschlägen auf die Bühne gestellt, die Darstellenden derb und eher düster angezogen, im Stil des beginnenden 20. Jahrhunderts. Markus Zwink hat dazu eine Musik komponiert, die sich effektvoll von düsteren Farben und eher fahlen Klängen hin zu einer chorisch und orchestral vermittelten Hoffnung bewegt. Viel Volk wird aufgeboten, natürlich, der reiche Steinbacher (Andreas Richter) will Kirchweih feiern, hat eine lustige Kapelle bestellt und auch ein Mysterienspiel in Auftrag gegeben, und als alle schon schön besoffen sind und geil auf die Dorfschönheit, die Zenz, taucht der Schisler auf, und alle glauben, den Leibhaftigen vor sich zu sehen. Quasi direkt aus dem Mysterienspiel entsprungen.

Dann wird es hart, und auch interessant. Das Sterben hebt an, der Pfarrer knallt durch, es wird eine Hexenjagd auf Schisler veranstaltet. Das Fest gerät zum Totentanz, der Totengräber selbst gräbt und gräbt, weil er, schon früh aus der bigotten Gemeinschaft ausgestoßen, am liebsten das ganze Dorf in der Grube sähe. Ihn spielt Rochus Rückel, im normalen Leben Student der Luft- und Raumfahrttechnik, 2010 im Volk bei der Passion dabei, im kommenden Jahr wird er den Jesus spielen. Eine typische Oberammergauer Karriere, der Schisler, Maximilian Stöger, wird den Kaiphas geben, Sophie Schuster, hier die Zenz, wird die Magdalena spielen. Und sie wird es sehr gut machen.

Es gibt einen Oberammergauer Sound, ein herrlich unverblümtes Pathos in der Sprache, das einen im Peststück mit seinem vernarrten, unaufgeklärten Glaubensirrsinn an den Rand der Verzweiflung bringt, aber halt doch Macht und Kraft hat. Mit Lust malt Stückl eine Gesellschaft, die nicht viel mehr als Saufen, Geld und Boshaftes gegen die Schwachen im Sinn hat. Ja, über die kann dann schon der Zorn Gottes kommen. Was der Vitus abwendet. Er ist der Sohn des Schislers, ihn spielt Cengiz Görür, ein 19-jähriger Schüler, der im kommenden Jahr der Judas sein wird. Jetzt hat er aber erst einmal die Idee zum Passionsspiel, er rettet damit das Dorf und verkündet, "Tausende werden kommen". Zum Wohle des Dorfes. So ist es geblieben bis zum heutigen Tag.

© SZ vom 01.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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