Theater:Viele Sprachen, viele Worte

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Lebenslügen, mustergültig inszeniert: die „Vögel“ im Akademietheater. (Foto: Matthias Horn)

Der Nahostkonflikt als Familiendrama: "Vögel" von Wajdi Mouawad im Wiener Akademietheater.

Von Wolfgang Kralicek

Anders als bei Kinofilmen oder TV-Serien gibt es im Theater selten "Spoiler"-Alarm. Was sollte man bei einem Theaterstück auch groß verraten? Bei den Klassikern weiß man eh, wie sie ausgehen. Und in der Gegenwartsdramatik spielt die Handlung - wenn es eine solche überhaupt gibt - meist eine eher untergeordnete Rolle. Plotgetriebene Stücke, deren Ende man nicht vorwegnehmen sollte, sind jedenfalls selten geworden. "Vögel" von Wajdi Mouawad ist so ein Stück, und keine Sorge: Das Ende wird hier nicht verraten.

Am Tag, nachdem Martin Kusej mit Ulrich Rasches jüngstem Chor-Exerzitium "Die Bakchen" (SZ vom 14.9.) seine Direktion am Wiener Burgtheater eröffnet hatte, ging im kleinen Haus schon die nächste Premiere über die Bühne. Und ästhetisch hätte der neue Intendant sich kein härteres Kontrastprogramm ausdenken können: Statt mit der monologischen Wucht einer antiken Tragödie sah sich das Publikum des Akademietheaters nun mit dem Dialog-Pingpong eines Well-made-Play konfrontiert. Der 1968 im Libanon geborene Autor und Regisseur Wajdi Mouawad emigrierte als Kind in den französischsprachigen Teil von Kanada und lebt heute in Paris, wo er das Théâtre national de la Colline leitet. Im deutschen Sprachraum wurde Mouawad 2006 mit dem Stück "Verbrennungen" bekannt, in dem sich ein kanadisches Geschwisterpaar auf die Suche nach seinem verlorenen Vater in den Libanon begibt und am Ende eine erschütternde Entdeckung macht. Auch das neue Stück, vom Autor selbst 2017 in Paris zur Uraufführung gebracht, ist zwischen Westen und Nahem Osten angesiedelt, wie "Verbrennungen" handelt auch "Vögel" vom langen Schatten des Krieges und einem dunklen Familiengeheimnis.

Der Biologe Eitan (Jan Bülow) lernt in New York die Literaturstudentin Wahida (Deleila Piasko) kennen; die beiden werden ein Liebespaar: Er ist ein Nerd, sie eine Schönheit; er ist Jude, sie Araberin. Als Eitan seine Verwandtschaft aus Berlin einfliegen lässt, um ihr beim Pessachfest offiziell seine Freundin vorzustellen, endet das Familientreffen im Desaster. Vater David (Markus Scheumann), ein ultrakonservativer, verbiesterter Fundamentalist, empfindet es als "Vatermord", dass sein Sohn eine Nichtjüdin zur Frau nehmen will; Mutter Norah (Sabine Haupt) ist mit der Situation total überfordert; nur der Großvater, der Holocaustüberlebende Etgar (Eli Gorenstein), nimmt's gelassen und versucht zu vermitteln. Man trennt sich unversöhnt.

Das nächste Mal trifft die Familie dann in Jerusalem zusammen, und zwar im Krankenhaus. Eitan ist bei einem Bombenanschlag lebensgefährlich verletzt worden. Aber während er sich von seinen Wunden erholt, bricht rund um ihn eine Lebenslüge nach der anderen auf. Wahida verlässt ihn, nachdem sie in Palästina ihre von ihr stets verleugnete arabische Seele erkannt hat; Eitans in der DDR areligiös aufgewachsene Mutter hat erst mit 14 zufällig erfahren, dass sie Jüdin ist; und als die erfrischend kratzbürstige Großmutter Leah (Salwa Nakkara) sich vor Jahrzehnten scheiden ließ, hat sie mit dem Mann auch ihren ungeliebten Sohn David aus dem Haus gejagt. Denn David, und jetzt kommt's - nein, Spoileralarm.

Die filmisch anmutende Form des Dramas - harte Schnitte, fließende Überblendungen - erinnert an die Bühnenepen von Mouawads frankokanadischem Landsmann Robert Lepage ("Lipsynch"); thematisch ist "Vögel" mit den interkulturellen Tragikomödien des US-Dramatikers von Ayad Akhtar ("Geächtet") verwandt. Das Stück, in dem alle Figuren in Originalfassung (Englisch, Deutsch, Hebräisch und Arabisch) mit Übertiteln reden, ist mustergültig konzipiert. Als "Vögel" voriges Jahr in Stuttgart seine deutsche Erstaufführung erlebte, spielte der israelische Schauspieler Itay Tiran den Vater. Diesmal hat er Regie geführt; recht straight und sachdienlich lässt er die Schauspieler machen, und die machen es meistens ziemlich gut. Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass Mouawads Drama weder so elegant konstruiert ist wie die Stücke von Lepage noch so pointiert geschrieben wie die von Akhtar. Jedes Gefühl und jeder Gedanke wird fein säuberlich erklärt und ausbuchstabiert, dreieinhalb Stunden lang, auch vor Kitsch und Pathos ist der Text nicht immer gefeit. So viel kann man verraten. Die Betroffenheit, die sich nach der bitteren Schlusspointe einstellt, hat einen schalen Beigeschmack. Sie fühlt sich ein bisschen zu kalkuliert an.

© SZ vom 18.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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