Theater:Schluss mit den Nacktszenen!

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Schlechte Zeiten, schlechte Herrscher: Racines "Britannicus", inszeniert von Stéphane Braunschweig. (Foto: Brigitte Enguerand)

Nero und die Möwe: Die Pariser Bühnensaison klingt geradezu heiter aus.

Von Joseph Hanimann

Der Pariser Theaterhimmel funkelt derzeit in allen Schattierungen. Neben den Fixsternen Comédie Française und dem Théâtre National de l'Odéon gibt es so manche Sternschnuppen, schon erloschene Sterne und solche, die noch glühen, obwohl sie real erkaltet sind. Zu diesen letzteren gehört das Théâtre des Amandiers in der Vorstadt Nanterre, wo einst Patrice Chéreau, Jean-Pierre Vincent, Jean-Louis Martinelli herrschten. Unter Philippe Quesne quält das Haus sich seit zwei Jahren mit mühseligen Mischveranstaltungen wie in dieser Saison dem aus den Münchner Kammerspielen übernommenen Stück "Caspar Western Friedrich": einem Versuch, den romantischen deutschen Landschaftsmaler zwischen die Farbkübel einer Kulissenwerkstatt von Hollywood einzusperren.

Vieles spielte sich in dieser Saison in Paris hinter den Kulissen ab. Nach dem Tod des Odéon-Chefs Luc Bondy im November kam das Intendantenkarussell in Bewegung. Nachfolger von Bondy am Odéon wurde der intelligenteste und europäischste unter Frankreichs Regisseuren seiner Generation: Stéphane Braunschweig, Jahrgang 1964, zuvor Leiter des Théâtre National de la Colline. Sein Nachfolger am Colline-Theater wurde der libanesisch-kanadische Autor und Regisseur Wajdi Mouawad - auch dies eine glückliche Wahl. Da auch noch das seit Jahren leidige Thema der Sozialversicherung für die Theaterleute, die sogenannten "Intermittents", von Premierminister Manuel Valls persönlich in die Hand genommen wurde und auf dem Weg zu einer dauerhaften Lösung ist, klingt die Saison geradezu heiter aus.

Schluss mit dem Gerümpel aus leerer Bühne, Lichteffekten, Video und obligaten Nacktszenen! So schimpft der junge Dichter Treplew aus Tschechows "Die Möwe" am Pariser Odéon ins Mikrofon. Thomas Ostermeier hat das Stück drei Jahre nach seiner Amsterdamer Inszenierung in diesem Frühjahr auf Französisch neu in Szene gesetzt und vom Lausanner Vidy-Theater aus auf Tournee geschickt. Seine Transformation von Treplews Ausfällen bei Tschechow gegen die realistische Theaterroutine von 1896 auf die aktuelle postdramatische Theatermode ist dem Regisseur von manchen übel genommen worden. Sie ist aber durchaus erheiternd.

Schade nur, dass der Rest der Aufführung wenig überzeugt. Ostermeier hat das Stück in einer Neuübersetzung von Olivier Cadiot ausgedörrt und die Polyfonie der Nebenhandlungen in eine Serie von Einzeldialogen zerschnipselt. Die Figuren spielen auf einer leeren Kastenbühne bald zerdehnt, bald hysterisch ihr Privatleben, in das mitunter Brocken aus der politischen Aktualität - etwa die Migrantenfrage - hereinplatzen. Ostermeiers Einfall, die Figuren am Ende in Gewinner und Verlierer zu sortieren, die überlebensfähigen Pragmatiker vorn am Spieltisch, die Versager hinten im Versteck des Selbstmörders Treplew, im Sterbebett des abgeschlafften Sorin oder in der verunglückten Künstlerlaufbahn Ninas, wirkt etwas brachial.

Interessanter ist das, was Frankreich gerade mit seinen Klassikern Racine und Corneille macht. Zwei Aufführungen ragen in dieser Saison heraus. Am Théâtre de la Ville hat die derzeit wohl beste Corneille-Regisseurin Brigitte Jaques-Wajeman das Fundamentalistendrama "Polyeucte" inszeniert. Der unter der Autorität des Römischen Reichs in Armenien herrschende und frisch zum Christentum konvertierte Titelheld wütet mit dem Eifer eines Neubekehrten mit dem Hammer gegen die römischen Götterbilder und strebt danach, als Märtyrer zu sterben. Sein politisch lavierender Schwiegervater und Statthalter Roms sucht nach Möglichkeiten, ihm die Hinrichtung zu ersparen. Doch selbst Pauline, Polyeuctes Braut und Tochter des Statthalters, vermag dem Fanatiker den Todeswahn nicht auszureden. Die Hinrichtung wird unabwendbar.

Corneilles Drama "Polyeucte" von 1643 ist so brisant, als wäre es gerade geschrieben worden

Brigitte Jaques-Wajman zeigt diese Figur nicht als frustrierten, liebesunfähigen Kompensationstäter, sondern als umgänglichen und intelligenten jungen Mann, der am Morgen des Dramas nach einer offenbar erfüllten Liebesnacht vom zerwühlten Bett Paulines aufsteht und sich dann ebenso leidenschaftlich dem Exzess seines neuen Glaubens hingibt. Liebesleidenschaft, Gotteswahn und Politik arbeiten sich hier physisch aneinander ab. Ohne platte Aktualitätsanleihen und trotz der harten Alexandriner-Verse versprüht Corneilles "christliche Tragödie" von 1643 eine Brisanz, als wäre sie erst gestern geschrieben worden.

Ganz anders ging Stéphane Braunschweig in seiner Gastregie an der Comédie Française Racines "Britannicus" an. Die Auseinandersetzung des Kaisers Nero mit dem potenziellen jungen Thronanwärter Britannicus verlegt er in die gedämpfte Spannteppichwelt eines modernen Regierungspalastes, wo die gestaffelten Türen zugleich Geheimnisse hüten und Gerüchte entfachen. Nero, der bisher allseits geschätzte Herrscher, steht auf der Kippe zum politischen Ungetüm. Mitten in der Nacht ließ er die junge Junie, die Geliebte des Britannicus, zu sich in den Palast holen. Deshalb sitzt frühmorgens schon, breitbeinig und ungeduldig auf Einlass wartend, Neros Mutter Agrippine vor der Tür. Denn sie hat sofort kapiert, was das Interesse ihres Sohns für das Mädchen für sie selber bedeutet: Einflussverlust.

Statt als Poltermatadorin der Macht spielt die grandiose Dominique Blanc im eleganten Hosenanzug diese Figur als reaktionsschnelle, aber stets beherrschte Selfmadewoman des politischen Geschäfts. Ihr verdankt Nero von Anfang an seine Position. Laurent Stocker gibt ihn mit seiner kurzbeinigen Gestalt als einen Durchschnittstypen, der sich nicht ganz auf der Höhe seiner Machtgelüste weiß. Zwar sitzt er in der wie aus dem Ei gepellten Berater- und Ministerrunde als Einziger hemdsärmelig am langen Tisch. Schon bei der Auseinandersetzung mit der Mutter presst er dann aber auf dem Stuhl kleinmütig die Hände zwischen die Oberschenkel. Sein Werben um Junie wirkt so hölzern, als ginge es ihm weniger um deren Liebe als solche als um den Schaden, den er damit dem Rivalen Britannicus zufügt.

Am Ende sitzt Nero in allegorischer Nachdenklichkeit erstarrt neben dem ermordeten Rivalen. Durch eine Art theatralischen Schnappschuss wird Racines "werdendes Monster" ganz undiabolisch im Moment seines ersten Fehltritts gezeigt, der auf die auch wohl eher mäßig monströse Bahn des Machtmissbrauchs führen wird. Müde Zeiten bringen unbegabte Gewaltherrscher, stümperhafte Fanatiker, erlebnisgeile Märtyrer hervor. Diese politische Einsicht ist auf der französischen Bühne derzeit am klarsten im Spiegel der Klassiker zu lesen.

© SZ vom 15.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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