Theater:Schließ deine Augen und schau!

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Verstehen Sie das? Szene aus Sebastian Hartmanns "Ulysses". (Foto: Arno Declair)

Vier Stunden für 1000 Seiten: Sebastian Hartmann stolpert am Deutschen Theater Berlin durch den "Ulysses".

Von Peter Laudenbach

Ausgerechnet aus den 1000 Seiten des Jahrhundertbuchs "Ulysses" einen Theaterabend machen zu wollen, zeugt von Wagemut. James Joyces Romanuniversum spielt an einem Tag in Dublin, dem 16. Juni 1904, von morgens um acht bis nachts um drei. Aber vor allem spielt er in den Erinnerungen, Assoziationen, Träumen, Gedankenströmen der Romanfiguren, in Regionen also, die sich zwar nicht der Sprache, aber der Sichtbarkeit auf der Bühne entziehen. Oder, mit den Worten des Studenten und angehenden Dichters Stephan Dedalus, einer der drei Zentralfiguren des Buches: "Schließ deine Augen und schau!"

Dass man der Aufforderung im Lauf der viereinhalbstündigen Inszenierung Sebastian Hartmanns am Deutschen Theater Berlin am liebsten folgen möchte, liegt nicht daran, dass sie innere Horizonte eröffnen würde, im Gegenteil. Sie erschöpft sich über weite Strecken in effektorientiertem Gezappel. Fritz Senn, einer der großen Joyce-Forscher, findet für das Spätwerk des Dichters die prägnante Formel, es bürde "einem Minimum an Zeichen ein Übermaß an Bedeutung auf". Bei Sebastian Hartmann ist es umgekehrt: Er fährt ein Maximum an szenischen Ausrufezeichen auf, das auf der vergeblichen Suche nach Bedeutung leer läuft.

Zu Beginn des Abends gibt es einen Weltuntergang. Dekorativ glühen die roten Neonröhrenwände an den Seiten der Vorderbühne. Eine Unglücksbotin (Linda Pöppel) berichtet von einem verheerenden Brand Dublins. Das bleibt beziehungslos, zumal Joyce mit seinem Weltroman eine vielstimmige Komödie und keine Apokalypse geschrieben hat. Aber der Prolog sorgt immerhin für Atmosphäre: Hier werden offenbar große und letzte Dinge verhandelt. Es folgt eine Reihe prätentiöser Bedeutungslosigkeiten. Ein Conférencier (Bernd Moss) im schwarz-silbern schimmernden Outfit einer depressiven Jahrmarktsfigur (Kostüme: die von Castorf-Inszenierungen bekannte Adriana Braga Peretzki) führt Zaubertricks vor. Man geht auf der leeren

Irgendwas müssen die Körper halt machen, während die Sätze weggesprochen werden

Bühne im Kreis und reiht eher zufällig Joyce-Sätze aneinander. Cordelia Wege streift kurz einige Kindheitserinnerungen und Masturbationsszenarien aus dem großen, den Roman abschließenden Monolog der Molly Bloom. Der Clown-Conferencier konstatiert mit dem berühmten Eingangssatz des dritten Romankapitels, einer Aristoteles-Paraphrase, die "unausweichliche Modalität des Sichtbaren." Das hätte ein schönes Paradox aufmachen können: Man kann dem, was man sieht, nicht trauen, man sieht immer nur die Oberflächen, nicht die Substanz. Im Theater, das nichts anderes als das Angebot macht, genauer hinzusehen, hat diese Feststellung etwas Gespenstisches - erst recht, wenn das theatralische Geschehen wie in dieser Aufführung vor allem aus Oberflächenreizen besteht. Aber auch wenn der Text die Abgründe der Welt- und Selbstwahrnehmung variiert, wird das szenisch nur unverbindlich begleitet: Irgendwas müssen die Körper halt machen, während die Sätze weggesprochen werden. Ähnlich leer-bedeutungsschwer hängen zwei schwarz schimmernde Kugeln über der Bühne (Bühnenbild: der Regisseur). Es ist egal, ob es die Augen Gottes, verdoppelte Monde oder einfach Deko-Elemente sind, damit der Bühnenraum nicht so leer aussieht.

Man atmet auf, als Ulrich Matthes auftritt. Mit ihm setzt endlich so etwas wie Theater, Konzentration auf einen Text, ein gemeinsames Nachdenken und in sich Hineinhören ein. Im Glitzerkostüm eines Entertainers arbeitet er sich durch eine Höllenfahrt, Odysseus' Besuch im Hades. Es ist das zehnte Kapitel der Odyssee und die Folie für eine Beerdigungsszene bei Joyce. Matthes spricht das mit ruhiger, empfindlicher Eindringlichkeit. Er spielt mit einem Erstaunen, was Odysseus im Totenreich erlebt, aber nichts könnte vertrauter sein als dieser intime Umgang mit den Toten und dem Tod. Dreimal wird Matthes im Lauf des Abends in solche Toten-Begegnungen eintauchen. Er wird sich in der Beerdigungsszene, dem sechsten Roman-Kapitel, von einem gestorbenen Freund verabschieden ("... hab dich ja eine Ewigkeit nicht gesehen, was man noch alles hätte machen können ...") und er wird in einer Art Tanz nach den Toten greifen wie nach Luftgeistern: Sie müssen doch noch irgendwo sein. Es sind die stärksten Szenen des Abends und die einzigen, in denen sich ein Schauspieler auf seine Texte und Spielsituationen wirklich einlässt.

Ansonsten wird in einer konfusen Textmontage (Dramaturgie: Claus Caesar) wirr herumgedröhnt. Der Roman ist anspielungsreich und voller Echos und Obertöne. Sein Assoziationsgeflecht ist fein und dicht gesponnen - offenbar zu fein für die Theaterverwerter. Sie demonstrieren mit ihrer Textfassung vor allem die eigene Überforderung. Also rettet sich die Aufführung vor der inhaltlichen Leere in einen aufgedrehten Testosteron-Expressionismus der verschwitzten Körper. Munter wird sich entblößt, gekeucht, in Zungen gesprochen, gebrüllt und gezuckt. In einem Moment der Wahrheit wendet sich Ulrich Matthes ans Publikum und stellt die entscheidende Frage: "Verstehen Sie das?" Aber der Versuch wäre vergeblich: Wie soll man etwas verstehen, wo es nichts zu verstehen gibt.

© SZ vom 26.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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