Theater:Raus aus allem

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Der Teich spielt die Hauptrolle: Ibsens "Die Frau vom Meer" in Mülheim. (Foto: Franziska Götzen)

Zurück zur Natur: In Philipp Preuss' Inszenierung von Ibsens "Frau vom Meer" in Mülheim wird der Teich zum Protagonisten.

Von Martin Krumbholz 

Weiß sind die Nächte in Mülheim an der Ruhr in der zweiten Augusthälfte nicht wirklich, und die Temperaturen im Raffelbergpark, in dem das Theater hochherrschaftlich liegt, können am späten Abend deutlich unter 20 Grad sinken. Als wollten die Theatermacher dem Motto ihrer traditionellen Weißen Nächte, "Retour Natur", allen erdenklichen Nachdruck verleihen, setzen sie ihr Open-Air-Publikum ohne große Vorwarnung einem Naturschauspiel aus, das Menschen mit empfindlicher Konstitution einen Kälteschock befürchten lässt. Auch der See oder besser gesagt der Weiher, der so malerisch im Park liegt und erstmals die Kulisse einer Aufführung bildet, trägt neben der Verdunstungskälte ob seiner pittoresken Effekte (Ruderboote und ähnliches) gelegentlich zur Heiterkeit, aber kaum zum physischen Wohlbefinden bei. Ist das alles ein Vorgeschmack auf den bevorstehenden Hardcore-Winter?

Sei's drum: In Philipp Preuss' Inszenierung der "Frau vom Meer" von Henrik Ibsen wird der Teich zum Protagonisten, auf einer kleinen Seebühne steht das Haus des Bezirksarztes Doktor Wangel, in dessen Umgebung das Stück spielt, und ja: Der Stoff ist schlau gewählt. Zwar bildet die Ökologie hier anders als etwa im "Volksfeind" nicht das Haupt-Sujet, denn das sind eher die romantischen Verirrungen der Ellida, der zweiten Frau des Doktors, aber am Rand spielt sie doch eine Rolle. Wobei der See nicht etwa für das Meer steht (das ist ein Stück weit entfernt), sondern für den "Karauschenteich", an dem Wangels Gut liegt und an dessen erbärmlicher Lauheit die "Frau vom Meer" so unsäglich zu leiden glaubt.

Ätherisch, unnahbar, nicht zu fassen: Petra von der Beek als Ellida. (Foto: Franziska Götzen)

Ellida möchte im Grunde ihres Herzens nur eines: verschwinden. "Retour Natur", sich vereinen mit den Elementen. Zur Koralle werden. Ihre "Liebe" zu einem verschollenen Seemann, dessen Wiederkunft im Raum steht wie die eines Messias, ist Ausdruck einer Realitätsflucht, gegen die ein Doktor Wangel mit seinen bescheidenen medizinischen Kenntnissen nicht ankommt. Zu den beiden Stieftöchtern hat Ellida keine Beziehung aufgebaut, und auch ihre Ehe ist mau. "Gewaltig" ist allein die Schwärmerei für den "Fremden". Hätte die Frau vom Meer in ihrem 19. Jahrhundert Gelegenheit gehabt, die posthumanistischen Schriften einer Donna Haraway oder verwandter Naturphilosophinnen zu rezipieren, die das Ende des Anthropozän (und des "Kapitolozän") ausrufen, wäre sie vermutlich Feuer und Flamme gewesen. So hat es seinen Grund, dass der Schauspieler Klaus Herzog, fantastisch gewandet wie das Emblem einer Koralle, quasi als Zwischenakt-Einlagen einige dieser Theorien zum Besten gibt.

Wie ernst all dies zu nehmen ist, bleibt der Fantasie oder dem Einfühlungswillen des Zuschauers überlassen, der unter seinen glühwürmchenartig blau leuchtenden Kopfhörern amüsiert bibbert. Schaut man auf Preuss' Figurenregie, die bei aller Politik nicht zu kurz kommt, wird man feststellen: Das Komische überwiegt. Petra von der Beek balanciert ihre Ellida gekonnt am Rand der Karikatur, ein ätherisches Wesen, unnahbar, überspannt, nicht zu fassen. Und Felix Römers Doktor Wangel kriegt unvermittelt Schreikrämpfe und fällt fast in den Teich, wenn seine Ellida vermeintlich von "Scheidung" spricht, dabei meint sie "Ent-scheidung", was unterm Strich doch nur fast das Gleiche ist.

Philipp Preuss ist der Krypto-Roberto-Ciulli am Theater an der Ruhr

Der See oder Weiher macht seine Sache an diesem Abend jedenfalls großartig, keine Bühnenbildnerin, auch nicht Ramallah Aubrecht, hätte das besser erfinden können. Niemand fällt letztlich hinein (das wäre Slapstick und dafür ist es auch zu kalt), aber der Sturz in den Abgrund liegt gewissermaßen in der Abendluft. Die Szene im Kahn zwischen der Wangel-Tochter Bolette (Elzemarieke de Vos) und ihrem alten Lehrer Arnholm (Rupert Seidl), in der er ihr einen unverfroren erpresserischen Heiratsantrag macht, ist köstlich in ihrer kalkulierten Mischung aus Mondschein-Romantik und Chuzpe. Günther Harders mysteriöser "Fremder" hat nur zwei Auftritte, funktioniert aber ausgezeichnet im Zusammenspiel mit Römers Wangel.

Philipp Preuss arbeitet offenbar gern mit einem festen Team, was hoffentlich nicht zu einer Ensemble-Spaltung führt. Am Theater an der Ruhr füllt Preuss seit geraumer Zeit die achtbare Rolle eines Krypto-Roberto-Ciulli aus (der achtundachtzigjährige Theatergründer zieht sich ein wenig zurück), trägt aber nicht die Bürde eines Intendantenjobs, sondern die eines "Mitglieds der Geschäftsführung". Nebenbei drückt er, nicht nur mit der Ibsen-Inszenierung, dem nun mehr als 40 Jahre altem Haus seinen eigenen Stempel auf.

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