Theater:Kein Blut inbegriffen

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Beim Theaterworkshop liest die Schauspielerin Dima Matta aus dem Stück "Dismemberment". (Foto: Tammo Walter)

Enttäuschte Gattinnen und strenggläubige Mütter: Auf den Bühnen in Libanon geht es um Tod, Trauer und Migration. Ein Theaterfestival öffnet den Vorhang auch für Stücke, die nicht von der Zensur genehmigt wurden.

Von Mounia Maiborg

Hanane Haji Ali wärmt sich auf. In einem schwarzen Jogginganzug liegt sie auf der Bühne und dehnt sich. Dabei spuckt sie jene Kehllaute aus, von denen die arabische Sprache so viele bereithält: Khab - enttäuscht. Khda - betrogen. Khrb - ruiniert. Und: Khara - Scheiße. Es ist der Beginn ihrer Performance. Und ein Abgesang auf Libanon. Etwa 100 Zuschauer sind in das kleine Theater gekommen, das im Niemandsland nahe der Stadtautobahn liegt. Es war das einzige Theater in Beirut, das bereit war, das Stück zu zeigen. Denn Haji Ali hat die Zensur umgangen und den Text von "Jogging" nicht vorab an die Sicherheitsbehörden geschickt. Dieses Prozedere ist im Libanon seit den Siebzigerjahren Pflicht.

Nun zeigt Haji Ali ihr Werk beim Zoukak Sidewalks Festival, einem der wenigen Theaterfestivals im Land. Das passt, denn beim Festival, das vom Theaterkollektiv Zoukak organisiert wird, ist der Idealismus so groß wie das Budget klein. Nicht alle Stücke sind explizit politisch. Aber es verbindet sie ein tiefes Unbehagen mit der eigenen Gesellschaft. Exil und Migration, Tod und Trauer sind die dominierenden Themen. Kein Wunder eigentlich. Der libanesische Bürgerkrieg ist noch längst nicht aufgearbeitet. Und im Süden des Landes beerdigt man junge Männer, die in Syrien gekämpft haben.

Als die Ehefrau erfährt, dass ihr Mann am Golf ausschweifend lebt, serviert sie den Kindern Rattengift

Hanane Haji Ali steht zunächst als sie selbst auf der Bühne: eine Schauspielerin in ihren Fünfzigern, die jeden Morgen joggen geht, um Osteoporose, Gewichtszunahme und Depressionen zu vermeiden. Eine "coole Frau mit Kopftuch", wie sie sich selbst nennt, Schiitin und Ehefrau eines christlichen Maroniten, der zum sunnitischen Islam konvertiert ist. Und Mutter von vier Kindern, die alle - wie so viele junge Libanesen - im Ausland leben.

Auf ihrer Joggingroute durch Beirut, vorbei an Baustellen und Müllbergen, denkt sie über ihre Traumrolle Medea nach: "Wenn das Zeitalter der Tragödie im Theater vorbei ist, warum rieche ich dann die Katastrophe, wenn ich durch die Straßen von Beirut renne?" Die Pointe sitzt. Der Müllgestank ist in Beirut ein Dauerthema. Aber die Komik bekommt bald eine bittere Note. Haji Ali findet Medeas Katastrophe nämlich in libanesischen Frauenschicksalen wieder.

Mit wechselnden Dialekten und wenigen Accessoires nimmt sie verschiedene Rollen an: Da ist die wohlhabende Christin, die eine Vorzeige-Ehe führt - bis sie erfährt, dass ihr Mann am Golf nicht nur für den Emir Araberhengste züchtet, sondern auch ein ausschweifendes Leben führt. Sie tötet ihre drei Mädchen und sich selbst mit Rattengift im sorgsam zubereitetem Obstsalat. Der Fall sorgte in Libanon vor einigen Jahren für Aufsehen. Haji Ali versucht nicht, das Unerklärliche zu erklären. An die Leerstellen setzt sie literarische Dokumente. Der vermeintliche Abschiedsbrief der betrogenen Ehefrau stammt in Wirklichkeit von Virginia Woolf.

Auch die einfache, streng gläubige Frau in einem schiitischen Vorort von Beirut hat drei Kinder verloren. Zwei bei israelischen Luftangriffen. Der dritte Junge kämpft für das Assad-Regime in Syrien. Als er sich weigert, auf Zivilisten zu schießen, wird er hingerichtet. Haji Ali spielt diese ungebildete, wehklagende Frau ebenso überzeugend wie vorher die sexy Ehefrau mit Rothaarperücke. Sie ist - das macht den Abend so intensiv - nicht nur eine gute Performerin, sondern auch eine große Verwandlungskünstlerin. Das Leiden, so denkt man, könnte die Menschen ja eigentlich über Klassen- und Konfessionsgrenzen hinweg verbinden. "Jogging" ist ein Appell an die Menschlichkeit - und eine düstere Abrechnung mit einem Land, in dem der politische Klientelismus der Empathie enge Grenzen setzt.

Hanane Haji Ali beendet die Aufführung mit den Worten einer somalischen Dichterin. "Niemand stößt seine Kinder auf ein Boot, ohne dass das Wasser sicherer ist als die Erde. Niemand entscheidet sich für Flüchtlingslager oder Gefängnis, ohne dass die Camps und Gefängnisse sicherer sind als eine Stadt in Flammen. Niemand verlässt sein Zuhause, ohne dass sein Zuhause ihm zuflüstert: Geh! Geh jetzt sofort!"

Zwei Millionen Syrer leben im Land. Jetzt hört man auch von Libanesen rassistische Sprüche

Hinterher, nach langem Applaus, gibt es Weißwein auf dem Dach des Theaters. Viele junge Leute sind da, viele Künstler. Manche machen sich Sorgen um ihr Land. In Libanon mit seinen 4,5 Millionen Einwohnern und seiner fein austarierten Politik entlang der Konfessionsgrenzen leben inzwischen knapp zwei Millionen Syrer, die meisten von ihnen Sunniten. Seitdem hört man auch von ehemals linken Libanesen Sprüche, die man als rassistisch bezeichnen könnte. Eine syrische Filmemacherin erzählt, dass ihr Nachbar ein halbes Jahr brauchte, um sie im Treppenhaus zu grüßen.

Das Festival soll für alle offen sein, egal welcher Herkunft. "Libanesisch ist für uns, wer in Libanon lebt", sagt Junaid Sarieddeen, einer der Organisatoren. "Wir wollen kulturelle Identitäten neu definieren." Das ist alles andere als selbstverständlich in einem Land, in dem der Arbeitsminister öffentlich Sätze wie "Wir Libanesen zuerst" sagt. Und in einer Theaterszene, in der kaum ein einheimischer Künstler von seiner Arbeit leben kann.

Viel ist beim Festival von den syrischen Künstlern noch nicht zu sehen. Die Koon Theatre Group, gerade von Damaskus nach Beirut umgesiedelt, zeigt einen Ausschnitt aus der aktuellen Probenarbeit; die symbolistisch anmutenden Bilder bleiben aber undurchdringlich.

Oussama Ghanam ist nur als Zuschauer da. Der beleibte Mann mit dem grauem Pferdeschwanz ist einer der bekanntesten syrischen Regisseure. Gerade inszeniert er in Damaskus Tschechows "Drei Schwestern". Über die Situation in Syrien will er lieber nicht reden. Stattdessen erzählt er, wie schwer es sei, gute Schauspieler zu finden. Weil sie im Exil sind? Nein, sagt Ghanam. Vor allem, weil die meisten lieber Geld mit Fernsehserien verdienen.

Es sind Off-Theater und alternative Kunstzentren, die hier bespielt werden. Auf dem Weg zum Zuschauerraum laufen die Besucher auch mal durch Keller voller Requisiten und Gerümpel. Einige Arbeiten werden in sogenannten Showcases vorgestellt - in der Hoffnung, dass die aus Frankreich, Deutschland und Großbritannien angereisten Kuratoren Interesse haben. Auch der Choreograf Ali Chahrour ist dabei, der im vergangenen Sommer zwei Produktionen beim renommierten Theaterfestival in Avignon gezeigt hat. In einer modernen, international anschlussfähigen Tanzsprache setzt er sich mit traditionellen schiitischen Trauerritualen auseinander. Performativ geht es bei dieser zweiten Festivalausgabe zu, manchmal auch dokumentarisch. Petra Serhal lädt in ihrer Performance "No blood included" (deutsch: kein Blut inbegriffen) in eine grell ausgeleuchtete Trauerhalle.

Das Theaterfestival hat sich geöffnet: für performative und dokumentarische Werke

Sie bittet um eine Schweigeminute nach der anderen: für einen Jungen, der kürzlich durch die Bombe eines IS-Kämpfers in Nordlibanon starb. Für den 1982 ermordeten libanesischen Präsidenten Bachir Gemayel. Für die von Nationalsozialisten umgebrachten Juden. Die Zuschauer tragen Kopfhörer, die die Geräusche verstärken und eine Art laute Stille erzeugen. Die Liste nimmt kein Ende. Weinen kann man hier nicht mehr um die Toten. Sondern nur routiniert weitermachen.

© SZ vom 18.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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