Theater:Kannibalischer Widerstand

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Ein gefräßiger Abend von Christoph Marthaler und ein Thomas-Bernhard-Triple am Schauspielhaus Hamburg.

Von Till Briegleb

Wegen des Aufrufs "Tötet Helmut Kohl!" wurde Christoph Schlingensief 1997 bei der Documenta festgenommen. Aber was ist das für eine Lappalie gegen das Komplott, das Christoph Marthaler jetzt unternommen hat. Für ein Festbankett in Groß-Zulu werden Politiker als Haute-Cuisine-Gerichte serviert. Da gibt es "Söderhoden an Eichelkäse gratiniert", "Dobrindt-Filet in Salzkruste", "Geriebenes Höcke-Ohrenschmalz in Buchstabensuppe" und Freiland-Migranten aus dem "Super-Gauland", außerdem Veganerleber, Lagerhaftklößchen und gehobeltes Zahnfleisch.

Es ist eine lange kannibalische Speisekarte, die anlässlich des Besuches des Inseldiktators von Papatutu, Häuptling Bieberhahn, bei seinem Amtskollegen auf dem Nachbareiland, Häuptling Abendwind, von der Mikrofonistin (Josefine Israel) angekündigt wird. Aber am Ende gibt es noch etwas viel Schlimmeres aus dem Zinkeimer: einen Eisbären. Oh Gott, die sind doch vom Aussterben bedroht! Haben diese Theaterleute denn überhaupt keinen Respekt vor den Tabus der europäischen Fleischfresserkultur? Nicht, wenn sie Nestroy spielen. Speziell sein Stück "Häuptling Abendwind", eine Farce um chauvinistische europäische Stereotype vom wilden Südsee-Insulaner, der Gottes Geschöpfe auf dem Lagerfeuer brät.

Christoph Marthaler, der diesen selten gespielten Einakter von 1862 für den Malersaal des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg ausgegraben hat, kann jedenfalls mit Fug und Recht fordern, für sein "gräuliches Festmahl" ebenfalls festgenommen zu werden. Aufruf zum Polit-Kannibalismus, das muss doch strafbar sein. Und dann auch noch Verstoß gegen die Liebe zu jenen Raubtieren, die ein Symbol gegen den Klimawandel sind!

In einer Zeit, in der in deutschen Theatern eine langsam hysterisch werdende Angst umgeht, dass Darstellung diskriminierend sein könnte, wenn sie sich irgendwelcher "fremder" kultureller Symbole bedient, leistet Marthaler kannibalistischen Widerstand. Indem er seinem Stück die bekanntesten Kinderbuchklischees menschlicher Rollenspiele einverleibt, spottet er über den rassistischen Stumpfsinn kolonialer Gewaltikonografie ebenso wie über die Scheuklappensicht der Political Correctness, die Kunst nur noch danach beurteilt, wer davon beleidigt sein könnte.

Hier jedenfalls trägt die schöne Wilde Atala (Sasha Rau) Gepardenprint und Indianerinnenzöpfe (nach Entwürfen von Sara Kittelmann), der Pianist (Bendix Dethleffsen) einen Chinesenzopf und der Koch Ho-Gu (Marc Bodnar) sogar eine Kochhose. Es wird fröhlich skalpiert, unkultiviert mit den Fingern gegessen und tölpelhaft gesprochen. Und der Ort dieser Kochshow mit leckeren Fremdlingszutaten ist ein Protzsaal im Stil afrikanischen Diktatorenkitsches, mit einer Schrankvitrine für die Skalpsammlung (Bühne: Duri Bischoff).

In Marthalers Kochshow "Häuptling Abendwind" kriegt jeder sein Körperfett weg

Hier trägt man schreckliche Socken und schreckliche Zähne, der Unterhaltungschef (Clemens Sienknecht) spielt Jürgen Drews und Bert Kaempfert auf der Casio-Orgel, und der Friseur (Ueli Jäggi) kann ganz toll Schlager singen und erklären, wie man durch Kundenverarschung ein erfolgreicher "Haarkünstler" wird.

Die beiden Häuptlinge aber sind ganz deutsche Kleinstadtdespoten: bräsig-cholerisch mit blonder Minipli-Frisur "Abendwind der Sanfte" (Josef Ostendorf); agil-dümmlich mit einem Grimassenfeuerwerk hinter der Designerbrille "Bieberhahn der Heftige" (Samuel Weiss). Sie haben sich gegenseitig die Frau entführt und verspeist, und wollen noch lieber richtige Wilde bleiben, seit sie die westliche Zivilisation kennengelernt haben durch Kreuzfahrtschiffe vor ihren Küsten. Hier kriegt jeder sein Körperfett weg. Und anders als bei Nestroys Original nach einer Operette von Jacques Offenbach, dessen Spott über Pomp, Chauvinismus und Größenwahn der Weltmacht Österreich bei der Uraufführung in Wien niemand so richtig verstehen wollte, sind Marthalers Sticheleien gegen politische Eitelkeit und moralisch Humorlose in aller Klarheit sehr komisch und entkrampfend.

Von dieser Rezeptur hätte die zweite Premiere, Karin Henkels Eintopf aus Thomas Bernhard-Texten mit dem Titel "Die Übriggebliebenen" im Großen Haus, eine deftige Prise gut vertragen. An dem dreistündigen Abend wird zwar auch einiges gegessen, braune Soße und Brandteigkrapfen zum Beispiel. Aber komisch und entkrampfend ist diese Parallelerzählung von Bernhards Roman "Auslöschung" und den Stücken "Ritter, Dene, Voss" und "Vor dem Ruhestand" wirklich nicht. Obwohl dessen antifaschistische Hass-Satiren auf die verlogen-familiäre Restaurationsseligkeit im Nachkriegsösterreich von den meisten seiner Leser und Leserinnen vermutlich als beißend komisch rezipiert werden, schmunzelt Karin Henkels Inszenierung das erste Mal nach 90 Minuten.

Die Fassung eines All-inclusive-Bernhards, die Henkel zusammen mit der Dramaturgin Rita Thiele erstellt hat, krankt an Überambition mit statischen Folgen. Die Verwebung thematisch ähnlicher Bernhard-Texte, die sich um verwaiste Geschwister mit Gewalttraumata drehen, führt zu einer extrem komplizierten Stichwortmaschinerie, die dem Konglomerat jede Leichtigkeit stiehlt. Thiele und Henkel sortieren ihr Texthybrid nach thematischen Verknüpfungspunkten wie "Hass", "Scham", "Inzest", "Naziverbrecher" oder "familiäre Verachtung", und die ständige Konzentration auf den richtigen Einsatz im Schlagwort-Scrabble scheint dazu zu führen, dass die Protagonistinnen und Protagonisten ihre Texte vor allem aufsagen. Und zwar selbst, wenn sie André Jung, Barbara Stucky oder Angelika Richter heißen. Nur Lina Beckmann, die am Hamburger Schauspielhaus gefühlt jede Hauptrolle im Großen Haus spielen muss, selbst, wenn es sich wie bei "Ritter, Dene, Voss" um Ludwig Wittgenstein handelt, verfällt ins gegenteilige Extrem und verkaspert den Philosophen durch Dauergrimassieren, was auch nicht lebensechter ist.

So entsteht weniger ein Schauspiel als ein Aggressionsglossar zu Thomas Bernhard, das leider akademisch bitterernst und ziemlich sauertöpfisch wirkt. Mit bleichen Untoten in einer schwarzen Giebelarchitektur, die Einfamilienhaus, Aussegnungshalle und KZ-Baracke abstrakt vereint (von Muriel Gerstner und Selina Puorger), entwickelt sich diese Exegese zur Moralpredigt über alte Nazis, böse Doktoren und gehässige Heuchelei. Hätte Karin Henkel nur einen Text inszeniert, wäre von Bernhards kreisendem Witz, seinem Sarkasmus und Ekel vielleicht etwas übrig geblieben. Dieser Dichter-Katechismus belehrt dagegen sein Publikum nur darüber, dass Familie und Staat aus Frust, Zynismus und unverdauter Nazilehre bestehen. Und das ist bestenfalls ein bisschen lachhaft.

© SZ vom 19.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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