Theater:Jenseits von Eden

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Ist das der Weltuntergang? Nein, nur Theater - aber es endet jedesmal tödlich: Pariser Bühnen zeigen die Stücke "Belagerungszustand" von Albert Camus und "Plötzlich letzten Sommer" von Tennessee Williams. Hier wütet die Pest, dort der Streit um die Wahrheit.

Von Joseph Hanimann

Postfaktisch kann die Welt auf zweierlei Arten untergehen. Sie löst sich auf in unvereinbare Hypothesen oder sie verklumpt in der stummen Resignation ihrer Bewohner und wird irgendwann von einem Autokraten entsorgt. Zurück bleibt in beiden Fällen ein Toter. Zumindest auf den Pariser Theaterbühnen. "Ist das der Weltuntergang?", fragt zu Beginn von Albert Camus' "Belagerungszustand" das aufgeschreckte Volk der spanischen Stadt Cádiz. Camus zeigt in dem Stück aus dem Jahr 1948, das Ähnlichkeiten mit seinem Roman "Die Pest" aufweist, wie ein Gewaltherrscher in der allegorischen Gestalt der Pest, begleitet von seinem Privatsekretär, dem Tod, von der Stadt allmählich Besitz ergreift.

Es ist nicht das beste Stück vom (eher mäßig guten) Theaterautor Camus. Bei der Uraufführung fiel es durch. Zu viele Thesen, zu wenig interessante Figuren. Doch kann man Zusammenhänge sehen zu unserer Zeit, wie der Intendant des Pariser Théâtre de la Ville, Emmanuel Demarcy-Mota, in seiner Inszenierung es tut. Er lässt den Diktator und seinen Gehilfen nicht frontal gegen die Bürger von Cádiz antreten, sondern aus dem Boden in der Saalmitte auftauchen. Und auch die Diener des neuen Regimes erscheinen aus allen Türen im Theaterraum. So breiten sich Gerüchte, Vorurteile, Verdächtigungen aus - wie die Pest. Sie brauchen nur ein günstiges Klima. Statt mit Verboten wird heute die freie Meinung eher mit dem Vorwurf des Volksbetrugs eingeschränkt, als Meinung der Lügner. Die traurig-grausige Erscheinung im schwarzen Ledermantel, mit der Serge Maggiani als personifizierte Pest auftritt, spiegelt diese neue Form von Machtausübung. Sie mischt sich unters Volk. "Eine gute Regierung ist eine, wo nichts passiert", glaubten einst die Machthaber von Cadiz. Die Pest weiß es besser: Ein bisschen was muss schon passieren, um die Leute bei Laune zu halten, und das besorgt der Privatsekretär, der Tod, mit seinem Registerbuch des Lebens, aus dem er hie und da eine Seite herausreißt.

Hier scheitert Demarcy-Mota mit Camus' Stück. Aus dem verliebten Rebellen Diego, der als einziger gegen den Diktator aufmuckt und durch seinen Tod nicht nur seine Geliebte, sondern die ganze Stadt rettet, weiß auch er nichts anderes zu machen als einen verzappelten Idealisten. Die Pest zieht ab und führt ihr Werk anderswo weiter. Zurück bleibt ein geschwätziger Humanismus, der mit klebrigen Idealen über die schäbige Realität hinwegtäuscht.

Statt mit Thesen kann man der Wirklichkeit auch mit Fantasie Herr werden wollen, so wie in Tennessee Williams' Stück "Plötzlich letzten Sommer". Stéphane Braunschweig hat dieses am Pariser Théâtre de l'Odéon sehr überzeugend inszeniert. Der üppige Garten mit Mammutbäumen, Riesenfarnen und fleischfressenden Pflanzen, den der in Spanien umgekommene junge Dichter Sebastian Venable angelegt hat, ist hier nicht Kulisse, sondern Handlungsträger. Anfangs meint man, der Garten spreche zu sich selbst. Erst dann sieht man, dass es Mrs. Venable ist, Sebastians Mutter, die beim Spaziergang im Grünen ihrem Arzt vom Tod ihres Sohnes erzählt.

Viel botanischer Fantasieraum also und nur ein winziger Streifen Mitteilungsraum ganz vorne an der Rampe - so hat Braunschweig sich die Bühne für seine Inszenierung gestaltet. Wenn dann aber Mrs. Venables Nichte Catherine, die in Spanien mit dabei war, dem Arzt eine ganz andere Version von Sebastians Tod erzählt, dass nämlich der Dandy von bettelnden Kindern zerfleischt worden sei, kippt der Zauber ins Ungeheuerliche. Der schmale Weg vorn an der Rampe wird zum Kampfplatz zwischen Tante und Nichte. Mrs. Venable will diese internieren lassen, Catherine verteidigt ihre eigene Wahrheit, ihre Mutter und ihr Bruder bangen um das ihnen von der reichen Dame zugesagte Geld. Über die Tropenwildnis senkt sich die Polsterwand einer Irrenhauszelle, die alle einschließt.

Die Welt wird hier nicht erobert, bereinigt, zerstört, sondern zerpflückt. Das ist vielleicht schlimmer als Weltuntergang. Jedenfalls denkt man sich das angesichts des grandiosen Damenkampfs, den Luce Mouchel als eiserne Lady im Rollstuhl und Marie Rémond als fragile Hochseilakrobatin über dem Abgrund des Wahnsinns einander liefern.

Braunschweigs Verdichtung der undurchschaubar gewordenen Realität auf dem Trampelpfad durch den finsteren Paradiesgarten, halb Vormenschheitsvision, halb posthumane Naturfantasie, gibt dem Stück eine ganz neue Dimension. Statt mit Selbstopferung, wie Diego bei Albert Camus, hat Sebastian bei Tennessee Williams seinen Vollkommenheitstraum mit Selbstzerstörung bezahlt. Erlösung bringt weder das eine, noch das andere, denn der Kampf wird von den Überlebenden weitergeführt.

© SZ vom 11.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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