Theater:In aller Schnelle vom Himmel durch die Welt zur Hölle

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Von wegen unspielbar! Das Deutsche Theatermuseum München zeigt in der Ausstellung "Faust-Welten" im Rahmen des Faust-Festivals, wie Goethes Drama auf der Bühne Umsetzung fand.

Von Christine Dössel

München ist im "Faust"-Fieber, zumindest gibt man sich von Seiten der kulturellen Institutionen große Mühe, die Stadt damit zu infizieren. Das geht bis zum Versuch der persönlichen Ansteckung. "Du bist Faust" lautet der ranwanzende Titel einer Ausstellung in der Hypo-Kunsthalle über Goethes Drama in der Kunst. Zwar weiß man nicht, warum ausgerechnet München nun ein großes "Faust"-Festival zelebriert, wo die Stadt doch, anders als etwa Frankfurt oder Weimar, keinerlei spezifische Verbindung zu Johann Wolfgang von Goethe und dessen dramatischem Hauptwerk hat und es auch sonst keinen Anlass gibt. Aber "Faust" gehört und gefällt nun mal allen, da lässt sich was machen.

Wenn München sich am "Faust" berauscht, darf das hier beheimatete Deutsche Theatermuseum nicht fehlen. Das lässt sich denn auch nicht lumpen und steuert zur großen Faustomanie die Ausstellung "Faust-Welten" bei, eine Schau über Goethes Drama auf der Bühne, kuratiert von Claudia Blank und Katharina Keim (bis zum 2. September). Deren Grundfragestellung lautet: Wer - Wo - Was? Also geht es vom "Who is who" des Stückes hin zu der Frage, welche Bearbeitungen von Goethes seit je als unspielbar geltendem Original auf die Bühne kamen. Und: Wo, an welchen Schauplätzen spielt sich das Ganze ab? Das ist eine Frage von besonderer inszenatorischer Brisanz, zeichnet sich Goethes Tragödie doch schon im ersten Teil durch rasante Szenenwechsel aus: Vorspiel auf dem Theater, Himmel, Studierstube, dann plötzlich freie Landschaft vor dem Tor, so geht es im flotten Wechsel dahin, gemäß der Aufforderung des Theaterdirektors: "So schreitet in dem engen Bretterhaus/ Den ganzen Kreis der Schöpfung aus,/ Und wandert mit bedächt'ger Schnelle/ Vom Himmel durch die Welt zur Hölle."

Insgesamt sind es 4612 Verse und 28 Schauplätze allein im ersten Teil. Das war bühnentechnisch im 19. Jahrhundert (und auch noch im 20.) gar nicht zu bewerkstelligen. Goethe nahm beim Schreiben keine Rücksicht auf die praktischen Umsetzungsmöglichkeiten, obwohl er selber Theaterpraktiker war. In einem kleinen Exkurs verweist die Ausstellung auf die Zeit, als er von 1791 bis 1817 Intendant in Weimar war.

Auch das Personal im "Faust" ist ungeheuer groß und vielfältig. Da gibt es ganze Chöre von Engeln, Weibern und Jüngern, die Spaziergänger vor dem Tor, die "lustigen Gesellen" in Auerbachs Keller, ganz zu schweigen von den Gestalten in der Walpurgisnacht wie "Die Gewandten", "Die Unbehülflichen", "Die Massiven" oder einzelne Vertreter von Anschauungen wie Weltkind, Skeptiker, Dogmatiker, Realist, Supernaturalist ... Und alle haben sie Text! Noch irrwitziger wird es in der "großen Welt", in die "Faust II" führt, bevölkert von Figuren aus der griechischen Mythologie und jeder Menge Faunen, Gnomen, Nymphen, Sirenen, Nereiden, Tritonen. Es gibt sogar einen "Chor der Ameisen".

Die Ausstellung reißt diese Fülle auf dem Weg zu ihrem eigentlichen Interessenspunkt, nämlich den Raumkonzepten, nur an; weist im Treppenhaus an den Wänden auf das Figurenpersonal und die Szenenfolgen der beiden Tragödienteile hin. Dort wird kurz auch auf chorische Besetzungen, die es bei "Faust"-Inszenierungen gab, verwiesen, etwa 1990 bei Einar Schleef in Frankfurt oder 2015 bei Robert Wilsons "Faust" am Berliner Ensemble, dessen Regiebuch man auf einem Monitor im ersten Stock einsehen kann.

Dem Haupt-Trio Faust, Mephisto und Gretchen begegnet man gleich im Eingangsbereich, den man wie einen Tunnel betritt. Über den Fußboden, die Wände und die Decke läuft der gesamte Dramentext in roter Digitalschrift, so geht man quasi in den Text hinein und durch den Text hindurch. Es ist ein Raum-Sog, an dessen Ende Fotos aus berühmten "Faust"-Inszenierungen projiziert werden. Da sieht man zum Beispiel Will Quadflieg als Faust in der legendären Hamburger Inszenierung von Gustaf Gründgens aus dem Jahr 1957, mit Gründgens als ikonischem Mephisto. Oder Martin Wuttke mit Iggy-Pop-Blondhaarperücke in Frank Castorfs Berliner Volksbühnen-"Faust" von 2017. Mit der tollen Valery Tscheplanowa als Gretchen, Helena, Heilige und Hure.

Nicht Faust, sondern Mephisto war bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts die bevorzugte Rolle großer Mimen. In der Weimarer Aufführung 1829 zu Ehren von Goethes 80. Geburtstag - und später auch in Wien - übernahm Karl von La Roche diesen Part. Er etablierte jenen Kavalier-Typus, der sich lange in der Darstellung des Teufelskerls hielt: Mephisto als fein gewandeter Junker und Bonvivant, mit Degen und Hahnenfeder am Hut. Erst später wurde er dämonischer. Gretchen durfte anfangs noch brünett sein, bevor sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das blondbezopfte Mädchen als Phänotypus durchsetzte. Faust wiederum war im 19. Jahrhundert mehr der jugendliche Liebhaber denn der Studierzimmer-Grübler, da früher der Fokus stärker auf der Gretchen- denn auf der Gelehrten-Tragödie lag.

Goethe selbst hat seine ausufernde Bühnenkomposition als "inkommensurabel" bezeichnet

"Faust" - ein Lesedrama? Mitnichten. Seit der Uraufführung am 19. Januar 1829 am Hoftheater Braunschweig in einer "für die Bühne redigierten Fassung" durch Ernst August Friedrich Klingemann schlagen sich Regisseure und Bühnenbildner sehr handfest damit herum - auch mit dem noch viel schwierigeren "Faust II", posthum veröffentlicht 1832. Peter Stein hat bei der Weltausstellung 2000 in Hannover den Wahnsinn vollbracht, den kompletten "Faust" spielen zu lassen, alle 12 111 Verse, an zwei Tagen, in 21 Stunden.

Goethe selbst hat seine ausufernde Bühnenkomposition als "inkommensurabel" bezeichnet. Welche Herausforderung sie für Regisseure und Szenografen darstellt und welche Raumkonzepte dafür im Lauf der Zeit gefunden wurden, zeigt die Ausstellung anhand von 23 Bühnenbildmodellen aus 142 Jahren Theatergeschichte. Darunter sind Entwürfe wie Jürgen Roses "Faust"-Kasten für Dieter Dorn (1987) oder Anna Viebrocks Rätselraum für Christoph Marthalers sogenannten Hamburger "Wurzel-Faust" (1993).

Den Anfang macht Angelo II. Quaglios Modell zur Münchner Aufführung von "Faust I" im Jahr 1875. Hier kann man schön die alte Praxis der illusionistischen Bühnenmalerei sehen: Bemalte Leinwände waren, an Zugstangen aufgehängt, hintereinander gestaffelt, wobei ihre Bildausschnitte sich nach hinten perspektivisch verjüngten. Die Erfindung der Drehbühne durch Carl Lautenschläger um 1896 machte szenisch dann viel mehr möglich. Berühmt wurde der Drehbühnen-Einsatz bei Max Reinhardts "Faust I" 1909 am Deutschen Theater Berlin. Alfred Roller hatte diese Bühne gestaltet, das großartige Modell ist in der Münchner Ausstellung zu sehen - ein historischer Hingucker.

Nach vielen Raumabstraktionen und -projektionen im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts ist in den großen "Faust"-Inszenierungen der jüngeren Zeit die Drehbühne wieder das Nonplusultra. Und der amtierende Meister der Drehbühnenarchitektur ist Aleksandar Denić. Er hat sowohl für Martin Kušejs Krisen-"Faust" 2014 am Münchner Residenztheater als auch für Frank Castorfs Kolonialismus-"Faust" 2017 an der Volksbühne Berlin die monumentalen Raumgebilde geschaffen. Beide Entwürfe sind im Modell zu bestaunen.

So ansprechend das alles ist, der Kosmos der "Faust-Welten" ist mit dieser Ausstellung bei Weitem nicht ausgeschritten. Wer tiefer einsteigen will, dem sei der Katalog empfohlen (mit Beiträgen von Katharina Keim, Birgit Wiens, C. Bernd Sucher, Ulf Otto und der Herausgeberin Claudia Blank). Und es gibt ein Faust-Kino mit Inszenierungsaufzeichnungen. "Faust" zum Selberschauen.

© SZ vom 02.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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