Theater:Immerwährender Kindergeburtstag

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Mit kindlicher Freude wurde der Kostümfundus geplündert, und jetzt gibt es Cowboys, SM-Latex-Fetischisten, Messis oder Teenie-Influencer. (Foto: Julian Röder)

Kay Voges schwemmt bei "Don't be evil" die Berliner Volksbühne mit seinen Bilderfluten.

Von Peter Laudenbach

Bertolt Brecht hat das Internet erfunden! An der Berliner Volksbühne balanciert der Medientheoretiker (Uwe Schmieder) auf den Armlehnen des vollbesetzten Zuschauerraums durch die vorderen Sitzreihen und skizziert seine Vision kommunizierender Röhren, die jeden gleichermaßen zum Sender wie zum Empfänger der Mediensignale machen. Über was könnte man sich in diesem Kommunikationsökosystem nicht alles verständigen, über steigende Mieten und den Aufstieg Chinas zum Beispiel. Brechts Radiotheorie von 1932 klingt erstaunlich aktuell. Die Emanzipation des Mediennutzers vom Diktat der Sender ist in den bestehenden Verhältnissen nicht realisierbar, das ist dem Marxisten klar. Also ist schon aus Gründen der Medienevolution eine völlig neue Gesellschaft nötig, die ihrerseits von der Entwicklung der neuen Medien geprägt werden wird. Die Silicon Valley-Revolutionäre mit ihrer Machbarkeitsideologie setzen genau das um. Sie würden den Linksradikalen Brecht lieben, wenn sie ihn kennen würden. Auch wenn er das alles möglicherweise etwas anders gemeint hat, als die Datensammelvampire, die auf den "Winner takes it all"-Märkten ihre Monopole ausbauen.

Kay Voges, der Medienbeauftragte des deutschen Stadttheaters, hat gemeinsam mit seinem bewährten Chefkameramann Voxi Bärenklau die Volksbühne mit seinen Bilderfluten geschwemmt. Die Inszenierung will, wie eigentlich alle Voges-Inszenierungen, gleichzeitig die praktische Anwendung, Fortsetzung und Illustration avancierter Medientheorie und die Neuerfindung des Theaters aus dem Geist des Cyberspace sein, diesmal mit dem Themenschwerpunkt Hatespeech, Meinungsblasen und Influencer-Irrsinn. Der Titel des Abends, "Don't be evil", zitiert die berühmte Selbstverpflichtung des Unternehmens Google. Der Mutterkonzern, die Alphabet Corporation, hat den firmeneigenen kategorischen Imperativ inzwischen aus seinen Verhaltensregeln entfernt. Irgendwie logisch, dass er jetzt sein Endlager auf einer Theaterbühne gefunden hat. Die moralische Anstalt Theater funktioniert als Restehalde, auf der die Moralphrasen der jeweiligen Epoche ausgestellt werden ohne größere Schäden anzurichten.

Das ist alles etwas ziellos, aber wenn man sich vom Overkill der Bilderfluten sedieren lässt, durchaus unterhaltsam

Nicht nur das Firmenmotto von Gestern und die Radiotheorie von vorgestern stammen an diesem entschlossen retrofuturistischen Abend aus versunkenen Epochen der Medienevolution und ihrer ideologischen Begleitmusik. Eine rührend naive "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" von 1996 erinnert etwa daran, welche technikinduzierten Anarcho-Utopien in der Steinzeit des Internets unter den Nerdjüngern vor ihren Röhrenmonitoren umgingen. Voges und Voxi Bärenklau zeigen dazu mit gut gelaunter Ironie den Film einer Party verlebter Exzess-Hipster im Absturzclub des Vertrauens. Es sieht aus, wie man sich in Berlin-Neukölln Kalifornien vorstellt (vielleicht auch umgekehrt). Auch sonst bewegen sich die reichlich gestreuten Bildreize an diesem Kunstkinoabend mit Theaterbegleitung gern in historischen Registern. Vieles erinnert an den Gebrauchsurrealismus von MTV-Clips aus den 1980ern, samt den großzügig eingesetzten Billigverfremdungseffekten, mit denen sich die Bilder vervielfachen, einfärben oder lustig verzerren lassen. Mit ähnlich kindlicher Freude am bunten Spielzeug wird der Kostümfundus geplündert. Egal ob als Cowboys, SM-Latex-Fetischisten, Messis, Spielzeuglöwen oder Teenie-Influencer, die Darsteller scheinen einen immerwährenden Kindergeburtstag zu feiern. Das ist etwas ziellos, aber wenn man sich vom Overkill der Bilderfluten sedieren lässt, durchaus unterhaltsam.

Dass das Theater mit seinen kleinen Menschlein auf der Bühne oft nicht ankommt gegen die Effektfreude der riesigen Filmbildteppiche ist noch das kleinere Problem dieses Abends. Das könnte notfalls als kritisch gemeintes Konzept durchgehen: Video killt den Bühnenstar. Die Schauspielerin Julia Schubert macht daraus eine lustige Nummer und beschwert sich, dass die Zuschauer immer nur auf ihr Livevideobild starren und niemand sie selbst ansieht: Hallo, ich bin hier, es gibt mich wirklich. Das größere Problem ist, dass der Kraft der Bilder eine gewisse Hilflosigkeit beim Versuch, die Phänomene analytisch zu durchdringen, gegenübersteht. Vom Teenagerpärchen (Andreas Beck und eine kraftvolle Vanesa Loibl), das sich in der Smartphone-Liveübertragung als Gangsterduo inszeniert und erst aus Versehen andere Menschen und dann mit Absicht sich selbst erschieß, bis zur grenzdebilen Pop-Influencerin oder Meinungsblasen, deren Konflikte mit vorgehaltenem Colt ausgetragen werden - an allem ist irgendwie das böse Internet schuld. Die Inszenierung kommt angesichts der Wirklichkeitsverschiebungen der neuen Medien nicht über fassungsloses Staunen und kulturpessimistisches Gruseln hinaus.

© SZ vom 04.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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