Theater:Großes tun und beiläufig sein

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"Die Hydra": Sandra Hüller spricht Heiner Müller am Schauspielhaus Bochum - sanft, leicht und leise. Am Ende bläst ein enormer Sturm über die Bühne.

Von Martin Krumbholz

Die Windmaschine ist die eigentliche Hyper-Metapher des Theaters. Das begreift man so recht, wenn man "Die Hydra" nach Texten von Heiner Müller in der Kammer des Bochumer Schauspielhauses gesehen hat. Denn nachdem Moritz Bossmann und Sandro Tajouri die Verstärker installiert und ihre Feedbackschleifen erzeugt haben, nachdem der Bühnenbildner Michael Graessner in einer kräftezehrenden Ein-Mann-Aktion eine veritable Flohmarkt-Architektur inklusive Heimorgel auf die Bühne geschafft hat, und nachdem Sandra Hüller gewaltige Textbrocken von Heiner Müller performt hat - nach 75 Minuten also bläst ein enormer Sturm über die Bühne und verwandelt sie in ein Trümmerfeld.

Ist es der Sturm aus dem Paradies, der uns entgegenweht, ist es das Trümmerfeld der Geschichte, von dem Walter Benjamin in seinem Text "Angelus Novus" sprach? Vermutlich, denn in den Müller-Texten, die von Herakles handeln, dem ersten Malocher der Geschichte, und erst recht in den eingebrachten Fremdtexten ist von Arbeit, von Fortschritt, von unerhörten Anstrengungen die Rede. Sandra Hüller in ihren Pelzgamaschen hat zwischendurch, während Graessner schuftete, viel über protestantisches Arbeitsethos nachgedacht und darüber, dass die Frauen von Köchen, die Pilze kochen, gefährlich leben. Halblaut hat sie das getan, murmelnd fast. Und nun das.

Heiner Müller, nach Bertolt Brecht immerhin der bedeutendste deutschsprachige Dramatiker des 20. Jahrhunderts, ist 24 Jahre nach seinem Tod nicht vergessen, aber ein wenig in den Hintergrund gerückt. Sein Pathos irritiert, obgleich seine Themen wohl relevant bleiben, solange die Erde sich dreht. Müller war der Auffassung, das Theater müsse in der Nähe von Gemeinplätzen bleiben, damit es ankomme. Das war gar nicht so verächtlich gemeint - nachzulesen in der wunderbaren, auch wunderbar redseligen Autobiografie "Krieg ohne Schlacht". Dort schreibt er auch, Kunst setze - im Gegensatz zum Journalismus - ein Einverständnis voraus.

Heiner Müller war mit dem Kommunismus einverstanden (nicht mit dem "realen Sozialismus" à la DDR), aber er interessierte sich weniger für irgendwelche hehren Weltverbesserungen oder für den idealen Staat als für das, was er die "gotische Linie" nannte, den Terror, den ewigen Blutstrom. Eine düstere Faszination für das Böse spürt man in all seinen Texten.

Sandra Hüller unterläuft das Pathos der Müller-Texte mit kühlem Understatement

Wenn der Bochumer Abend als "Uraufführung" firmiert, ist das so eine Sache: Die beiden sperrigen Monologe, die Hüller rezitiert, stammen aus Müllers Stück "Zement", uraufgeführt 1973, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Fjodor Gladkow. Tatsächlich uraufgeführt werden in Bochum sozusagen Fremdtexte.

Man muss allerdings die Ohren spitzen, um sie zu verstehen. Sandra Hüller spricht dezidiert leise, wie zu sich selbst. Neben dem Mikroport hat sie einen Knopf im Ohr, die Texte werden ihr zugespielt. Das gibt ihrem Sprechen eine Beiläufigkeit, ein kühles Understatement, das zu dem Pathos der Müller-Monologe den größtmöglichen Kontrast herstellt. Müllers Technik besteht ja oft darin, das scheinbar Nebensächliche fast bombastisch zu überhöhen, um die zentrale Botschaft dann lakonisch zu unterkühlen. "Dem folgt der Selbstmord der Götter." So in etwa.

Wenn Sandra Hüller jedoch ganz banalen Tätigkeiten nachgeht und dabei halblaut nachdenkt, sei's über Pilze oder über Fenster in Flugzeugen, die rund sein müssen, tritt der gegenteilige Effekt ein. Null Pathos, null Emphase, alles ist der Reflexion untergeordnet, dem Fluss der Gedanken. Die These ist nebensächlich.

Heiner Müller, der in den Achtzigerjahren selbst in Bochum inszeniert hat, hätte an diesem von dem Regisseur und Musiker Tom Schneider eingerichteten Abend vermutlich seine Freude gehabt. Denn das szenische Experiment war ja durchaus sein Ding.

© SZ vom 14.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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