Theater:Gentrifizierung, jetzt!

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Tina Lanik inszeniert in Stuttgart die Uraufführung von Thomas Melles Immobilienstück "Die Lage". Leider ohne Revolution.

Von Egbert Tholl

Kurz vor Schluss gibt es zumindest den Versuch einer Revolution. Der Schauspieler Sebastian Röhrle macht das, was im Theater immer gut ankommt, er ergeht sich in einer Zornessuada: "Geht alle nach Hause. Ihr Club-Mate-trinkenden Nichtse aus Friedrichshain. Ihr aufgeregten Bürgerstöchter von der Schanze. Ihr szenigen Tagelöhner aus Ehrenfeld. Ihr durcharisierten Familien in Prenzlauer Berg. Ihr verträumten Latte-Macchiato-Schlürfer in der Altstadt. Ihr Belgisches-Craftbeer-Trinker im Belgischen Viertel. Ihr Maden in allen Speckgürteln. Ihr Münchner, ihr Münchner, ihr Münchner."

Thomas Melle listet noch viel mehr solche Beispiele auf, angesiedelt zwischen Stereotyp und echtem, bösen Witz. Sein neues Stück heißt "Die Lage", Tina Lanik hat gerade die Uraufführung am Schauspiel Stuttgart inszeniert. Es geht darin um Gentrifizierung, um Wohnungen, die sich auch ein Normalbürgerlichverdienender in den deutschen Innenstädten nicht mehr leisten kann, es geht um den Kampf um diese Wohnungen bei den Besichtigungsterminen und darum, was das alles mit uns macht. Die Lage ist ernst.

Melle schon einige tolle Sachen geschrieben, hat mit seinem brillanten Roman "Die Welt im Rücken" bewiesen, wie gut er die (eigenen) Schattenseiten der menschlichen Existenz erkunden kann, hat vor einem Jahr für die Münchner Kammerspiele Shakespeares "Lear" zu einem aufregenden Gegenwartsgenerationendrama umgeformt. Man kann von ihm viel erwarten - und sieht sich nun ein wenig enttäuscht. In "Die Lage" schwebt sein Blick hoch über dem Gegenstand und richtet sich von dort nur manchmal so genau auf seine Figuren, dass im Scharfstellen der Betrachtung etwas Böses oder im besten Fall Abgedrehtes herauskommt. Dabei ist seine implizite Kernthese schon richtig: Die Gentrifizierung der Innenstädte erschafft eine Gentrifizierung der Menschen, die sich um diese bemühen. Um eine Wohnung zu erhalten, verwandeln sich Menschen in genau jene Feindbilder, die hier eingangs aufgelistet sind. Damit fällt die Revolution dann auch aus.

Schreiben kann Melle natürlich. Aber hier kann er sich nicht so recht entscheiden zwischen Analyse und Irrsinn. Und so bleibt die Analyse vage und der Irrsinn meist milde. Tina Lanik versucht in ihrer Inszenierung, die beiden Pole zu vereinen. Das Setting, gebaut von Stefan Hageneier, ist klinisch, ein verkantetes Wohnungsquadrat mit freistehendem Küchenblock und großen Fenstern, in denen manchmal die Darstellenden verdoppelt oder vergrößert werden, manchmal Projektionen heile, aseptische und garantiert nicht preiswerte Wohngettos aufscheinen lassen, in die man kaum reinkommt und dann drin bleibt, wenn man mal drin ist, auch weil man aus Angst vor den bösen Ureinwohnern in den Vorstädten bibbert.

Melles Luxusangebote wären in München eher Schnäppchen

Zwei Schauspielerinnen und drei Schauspieler rasen mit Verve und Präzision durch die vielen Seiten Text. Die Macht des Markts hat sie alle in ihren Kostümen längst entindividualisiert, mal sind sie Makler, mal Wohnungssuchende, auf beiden Seiten sind sie korrumpiert, resigniert oder einfach Arschgeigen. Zu Beginn vollführt Jannik Mühlenweg mit dem Publikum ein Bewerbungsgespräch für ein WG-Zimmer, ganz Fühli-Yogi mit dem aasigen Bewusstsein, den Bewerber völlig degradieren zu können als Machthaber über ein paar Quadratmeter. "Du musst dich jetzt mal zeigen." Alles preisgeben, ein Leitmotiv hier, wiederkehrend in der Rede von den Bewerbungsmappen und kulminierend in echter Nacktheit, wobei Penislänge offenbar kein Kriterium für den Zuschlag für die Wohnung ist.

Melle listet Luxusangebote auf, die man, kommt man aus München, eher für Schnäppchen halten kann. Ähnliches gilt für die Auseinandersetzungen mit den Maklern, da kennt man noch ganz andere Beispiele vom Missbrauch der Macht des Besitzes oder zumindest von dessen Verwaltung. Wobei man das Paradigmenhafte natürlich schnell kapiert. Und es stimmt ja auch. Aber gut wird es, wenn Melle die Situation überspitzt und Lanik das dankbar annimmt. In der Küchenzeile zum Beispiel haust der Vormieter einer Wohnung. Boris Burgstaller lebt dort im Schlafsack und schimpft auf die Lügen von Eigenbedarf, studierenden Töchtern und vor allem auf Luxussanierungen, wo ein Zausel mit altem Mietvertrag natürlich im Weg ist.

Bei manchem Paar offenbart das Gespräch mit dem Makler die Brüchigkeit der Beziehung, die oft nur noch wegen der Wohnungssuche aufrecht erhalten wird und dann auch noch die Lautstärke beim Sex angeben muss. Andere müssen ins Schlaflabor, weil der Vermieter ein Schnarchzertifikat verlangt. Lustig dabei ist, dass einem die beiden Damen, Marietta Meguid und Josephine Köhler, zunehmend überlegener im Umgang mit der ganzen Malaise erscheinen. Herrlich, wie die extrem nuancierte Köhler wie eine Regisseurin Wohnungssuchende zur Entäußerung antreibt. Doch letztlich ist man hier in einer gut situierten Luxusblase. Und die Revolution bleibt aus.

© SZ vom 22.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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