Theater:Die Simpsons auf Abwegen

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Die Anklänge ans Puppenspiel sind unverkennbar: Janosch Fries (hinten) und Anne Bontemps in "Die Verwandlung" an der Schauburg. (Foto: Cordula Treml)

Der junge Regisseur Jan Friedrich inszeniert "Die Verwandlung" nach einer Erzählung von Franz Kafka an der Schauburg in einer Kunstwelt mit puppenhaften Geschöpfen

Von Sabine Leucht

Verwackelte Filmbilder eines männlichen Unterkörpers. Koffer in der Hand, unrunde Schritte. Geldscheine wechseln den Besitzer und verschwinden in Türschlitzen, auf denen untereinander "Vater", "Mutter" und "Schwester" steht. Die patriarchale Hierarchie ist intakt im Hause Samsa. Der Vater, der gleich den Ekel auf seinen Sohn ausspucken wird, rangiert an oberster Stelle. Das ist vielleicht auch der Grund, warum Gregors Name an der Tür fehlt, die er alleine unterhält. Gregor wird geduldet; muss sich sein Existenzrecht Tag für Tag erkaufen. Da ist seine plötzliche Verwandlung in "ein ungeheures Ungeziefer" nicht von Nutzen.

Jan Friedrichs Inszenierung von Franz Kafkas "Die Verwandlung" wird vom Fleck weg überdeutlich. Der 27-jährige Regisseur, der vom Puppenspiel kommt und mit der Schauburg-Inszenierung von Wedekinds "Frühlings Erwachen" zum Berliner Festival "Augenblick mal!" eingeladen war, hat seine Handschrift gefunden: Er möbliert dezidierte Kunstwelten mit puppenhaften Geschöpfen, Live-Videobildern und einiger Drastik. Darum leuchtet er auch hier wieder grell aus, was bei Kafka zwischen den Zeilen rumort. Dafür hat er dessen penibel verdichtete Erzählung von 1912 mit eigenen Texten und solchen von Henrik Ibsen und Virginia Woolf durchsetzt und die Schauspieler in grelle Kostüme gesteckt. Darin sehen die Samsas ein bisschen so aus wie die Simpsons, wenn man sie mit den grässlicheren Geschöpfen des Knetanimations-Papstes Nick Park kreuzt. Und dann haben diese bunten Monster auch noch eine Überdosis psychoanalytisches Wahrheitsserum geschluckt. So packt der alte Samsa, den David Benito Garcia mit viel Lust an der Häme spielt, die ganze narzisstische Kränkung auf den Tisch, die ihm das inkontinente und egoistische Mängelwesen zugefügt hat, das seine Frau in ein Muttertier verwandelte - was man freilich bei der von Anne Bontemps zur Schau getragenen Selbstsucht kaum nachvollziehen kann.

Allerdings haben die Schauspieler unter voluminösen Knetperücken und tennisballgroßen Kunstaugen auch wenig individuellen Spielraum. Gregors Schwester (Helene Schmitt) trägt zudem noch eine monströse Außenzahnspange, ein Sprech-Handicap sondersgleichen. Doch um Sprache geht es hier ohnehin allenfalls nebenbei. Friedrichs "Verwandlung" ist hypernervös-nervig, laut, steht inhaltlich wie bewegungstechnisch unter Druck und schlägt allerlei Deutungen vor, die Kafkas Käferwesen dechiffrierbar machen könnten: Psychosomatische Beschwerden à la "Krankheit als Weg", der Burnout des überforderten Alleinversorgers, eine unter den Teppich gekehrte Erbkrankheit, ein Ödipuskomplex, ein Selbstmord auf Raten und die Ahnung, dass der zum Heulen selbstlose Sohn auf Hikikomori macht, um die lebensuntüchtig gewordenen Eltern nebst Schwester zu reanimieren, stehen nach- und nebeneinander im Raum.

So wie auch die Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Das ist zu viel für einen Gregor. Daher gibt es hier drei. Simone Oswald spielt unter anderem ein fulminantes Solo; und Janosch Fries und dem vielversprechenden Schauburg-Neuling Michael Schröder gelingt es immer wieder, das aufgekratzte Psycho-Grusical, dessen Energie sich in symbolträchtigen Songs von Terry Jacks bis Queen entlädt, herunterzudimmen. Wenn es leiser wird, die Gregors auf Rollbrettern durch den Raum gleiten oder ihre Masken ablegen, hat das Geheimnis, haben endlich die Zwischentöne eine Chance, die die Fantasie anspringen lassen.

Die liegt an dem gut zweieinhalbstündigen Abend, der den Schmerz grell ausbuchstabiert, die Scham auserklärt und die Bosheit ausstellt, die in Kafkas Text so wehtut, leider allzu oft im Tiefschlaf. Man kann das so machen, zumal als junger Regisseur, der vielleicht noch ganz gut weiß, wie man ein Publikum 15 plus mit Interpretationshilfen versorgt und ihm zeigt, dass Theater mehr zu bieten hat als Textexegese. Als älterer Zuschauer darf man aber auch ein wenig trauern und sich zurücksehnen etwa nach Beat Fähs "Verwandlung" am gleichen Ort. Und doch: Wenn sich am Ende das Dach von Robert Kraatz' mehr und mehr auseinanderstrebendem Bühnenhaus auf drei fast erwartungsfrohe Gregors senkt, geht man mit allerhand Diskussionsstoff nach Hause.

Diese erste von sieben Premieren der dritten Schauburg-Spielzeit Andrea Gronemeyers darf und will streitbar sein. Unter dem doppeldeutigen Motto "Macht!" geht sie weiter etwa mit Juli Zehs "Corpus Delicti" (in der Regie von Ulrike Günther, die hier zuletzt Kristo Sagors "Ich lieb dich!" inszenierte, das 2019 den Mülheimer KinderStückePreis gewann). Am 8. November inszeniert Theo Fransz das mit dem deutschen Kindertheaterpreis ausgezeichnete Stück "An der Arche um acht" für Kinder ab sechs. Und den Schlusspunkt der Spielzeit markieren die jungen Bühnenallrounder Stephanie van Batum und Florian Schaumberger. Eigene Entdeckungen wie Friedrich, Kindertheaterroutiniers wie Fransz, dazu Nachwuchs aus der Otto-Falckenberg-Schule und Spartenübergreifendes von Ariel Doron (Figurentheater) und Erik Kaiel (Tanz): Das Programm ist runder als es sein Auftakt ahnen lässt.

© SZ vom 07.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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