Theater:Die gute Laune geht im Mittelmeer unter

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In seinem neuen Stück "Die Wehleider" am Schauspielhaus Hamburg wird der liebevolle Christoph Marthaler auch mal bitter und ungemütlich - es ist ein Flüchtlingsdrama.

Von Till Briegleb

Dass Christoph Marthaler mal so richtig humorlos und bitterernst wird, das war in den rund 30 Jahren seiner liebevollen Bühnenkunst kaum zu erleben. Ironie, Satire und feiner Spott waren immer die Mittel, mit denen er sein Unbehagen an gesellschaftlichen oder politischen Erscheinungen gezeigt hat, sei es gegenüber Nationalismus, Militarismus oder der kapitalistischen Leistungsdoktrin, sei es bezogen auf die feindliche Übernahme der DDR oder den Konkurs der Swiss Air, oder in seiner lebenslangen Verteidigung der Schwachen, Lebensfernen und Eigensinnigen. Aber nun reicht es Christoph Marthaler offensichtlich. Denn das, was er in einer zentralen Szene seiner neuen Produktion "Die Wehleider" am Hamburger Schauspielhaus vorführt, ist die Adaption des Auschwitz-Prozesses übertragen auf jene Funktionäre und Exekutivbeamten, die den tausendfachen Tod der Flüchtlinge im Mittelmeer nicht verhindern.

Christoph Marthaler hat ein Stück über die Flüchtlingskrise gemacht. Es ist so explizit, wie es einem feinsinnigen Menschen möglich ist, der sich auch in der Verteidigung der allgemeinen Lebens- und Menschenrechte nicht auf das Niveau von Wut begeben möchte. Dafür hat Anna Viebrock ihm eine beinahe lebensechte Turnhalle auf die Bühne gebaut, die nach dem Auszug der Geflohenen aus Kriegs- und Armutsgegenden nun von den Beschädigten der inneren Emigration bezogen wird. In Armeedecken gehüllt schleichen sie aus den Umkleidekabinen zu ihrem Matratzenlager, 14 skurril gekleidete und gemein frisierte europäische Menschen auf der Flucht vor den Ansprüchen ihrer Zeit.

Herpes, Nagelpilz und Gürtelrose sind ihr Ausweis des Fluchtgrundes, Burn-out, Angst und Depressionen heißen die Regime, denen es in dieser Einrichtung zu entfliehen gilt. Überwacht von einer ständig hämisch lachenden und Vorträge haltenden Oberschwester auf dem Balkon, gespielt von Irm Hermann, und drei irgendwie nahöstlich aussehenden und hart zupackenden Wärtern in Militärhosen (Joaquin Abella, Haizam Fathy, Antonio Jimenez Navarro), unterziehen sich diese Leistungsemigranten einer Sport-, Sing- und Schlaftherapie - in deren Verlauf sie ihre Überforderung nicht nur durch typische Wohlstands-Hypochondrien offenbaren, sondern sich vor allem geschwächt zeigen durch Werte, durch Hilfe und Toleranz.

Während eine überschminkte Kindfrau (Gala Othero Winter) hysterisch über ihre Ernährungskomplikationen klagt, weil sie durch Milch- und Getreideunverträglichkeiten einerseits, Verweigerung von Fleisch und Fisch aus ethischen Gründen andererseits dazu gezwungen sei, von Astronautennahrung zu leben, formulieren andere ihre sozialen Phobien konkret. "Ich bin für die offene Gesellschaft", schreit ein als Donald Trump verkleideter Josef Ostendorf aus dem Hintergrund, "aber ich will persönlich nichts damit zu tun haben." Die notorische Abwehrhaltung saturierter Menschen, die ihre Verlustängste animiert von Demagogen zu politischen Ansichten verbiegen, führt den Chor der Herpeskranken schließlich dazu, über die Notwendigkeit von Deportationen zu singen. Und die Blockwartin, die von ihrem Führerbalkon aus lange über das Ende der Sesshaftigkeit der gutgestellten Nomaden in der modernen Zeit spricht, schließt mit der Frage an alle Zartbesaiteten unter ihnen: "Wie verteidigen wir uns gegen die Nomaden der Armut?"

Bei diesem großen Spaßmacher endet der Humor an den Außengrenzen

Eingebettet sind diese Spitzen in schöne Lieder von Bach, Brahms und Baccara, die teilweise unverständlich in die Matratzen gesungen werden, sowie in absurde Sketche, kitschigen Tanztee und ausgiebige Slapstick-Nummern im Turnunterricht, wie sie an die Marthaler-Abende am Schauspielhaus der Baumbauer-Zeit in den Neunzigerjahren erinnern, etwa "Stunde Null" oder "Die Spezialisten". So weit wird die deutliche Kritik an der bigotten Menschlichkeit Europas immer noch in jenem Ton der ironischen Freundlichkeit gehalten, der Marthaler-Abende so herzlich macht. Aber schließlich lässt er die Atmosphäre doch ins Anklagende kippen, weil man das Ertrinken an den europäischen Außengrenzen vielleicht doch nicht nur als Satire behandeln kann.

Nachdem Josef Ostendorf knapp eine Szenerie des abgeschotteten Europa der Zukunft umrissen hat, das jährlich 156 000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lässt, treten einige Angeklagte in Anzügen an die Rampe, um sich in einem Prozess für diesen Massentod zu rechtfertigen. Clemens Sienknecht schiebt alles auf seine unterbesetzte Integrationsbehörde, die er außerdem "nur kommissarisch" geleitet habe. Jan-Peter Kampwirth erklärt sich zu einem kleinen Funktionsrad bei der Küstenwache, der das Sterben vor seinen Augen schon "sehr tragisch" fand. Jean-Pierre Cornu hat "von all dem nichts gewusst", weil er bei seinen Badeurlauben am Mittelmeer keine toten Flüchtlinge gesehen habe. Schließlich fordert Graham Valentine, dass "wir lernen müssen, uns zu verzeihen", bis er sich an seinen eigenen Ausflüchten krampfartig verschluckt.

Das gesamte Repertoire der Ausreden, Leugnungen und Hinweise auf Befehlsstrukturen, das in den Kriegsverbrecherprozessen der Nachkriegszeit in endloser Wiederholung benutzt wurde, um die Unschuld des Individuums an den begangenen Gräueltaten zu behaupten, wird in diesem düsteren Moment als Parallele in die Gegenwart gezogen. Diese angedeutete Gleichsetzung von NS- und EU-Zeit ist zwar immer noch eine Übertreibung, wie sie nur die Satire erlaubt, aber ihr Ton ist so bitter wie in einem echten Prozess. Und wenn im Schlussbild das ganze Ensemble in Unterwäsche auf dem Matratzenberg liegt wie gestrandete Leichname an den felsigen Küsten Griechenlands, dann unterstreicht dieses Requiem der guten Laune, dass ein großer Spaßmacher die Grenzen des Humors kennt.

Einmal Schluss mit lustig. So wird dieser Abend nicht nur zur Ausnahme in Christoph Marthalers Inszenierungsgeschichte, sondern auch zu einer nachdenklichen Besonderheit unter der großen Zahl von Stücken, die sich in den letzten Jahren der Flüchtlingssituation in Europa mit den Mitteln der Ironie zugewendet haben. Die Migration des Humors ins Erschütternde ist eine Öffnung jener Grenzen, hinter denen sich so viele politische Ironiker sonst verschanzen. Lachen allein genügt eben nicht.

© SZ vom 06.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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