Theater:Der irritierte Macho 

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„Den Teufel spürt das Völkchen nie / Und wenn er sie beim Kragen hätte“: Szene mit Nader Khademi aus Thorleifur Örn Arnarssons Inszenierung „Let’s talk about Faust“. (Foto: Øyvind Eide)

Thorleifur Örn Arnarsson inszeniert am Nationaltheater in Oslo einen diskursiven "Faust", in dem es um Pädophilie und Patriarchat geht - und um Priscilla Presley.

Von Till Briegleb

Hätte in Berlin eine Inszenierung Premiere, in der explizit die sexuelle Beziehung eines alten Mannes zu einer Vierzehnjährigen behandelt wird, dann würde man dort vermutlich nicht Angela Merkel und Alexander Gauland einträchtig nebeneinander in der zweiten Reihe sitzen sehen. Anders in Oslo. Dort besuchten Premierministerin Erna Solberg und die Chefin der rechtspopulistischen Fortschrittspartei Siv Jensen zusammen die Inszenierung von "Let's talk about Faust". Allerdings führen die beiden hier auch eine Rechts-ganz-rechts-Koalition. Aber dass sie sich gerne Texte über Genderprobleme und den sexuellen Missbrauch eines Kindes in Goethes Drama anhören, selbst wenn die Schau in ihrem Nationaltheater aufgeführt wird, das überrascht angesichts der Feindbilder rechter Demagogen doch ein wenig.

Oder glaubte die Staatsspitze hier einen klassischen "Faust" zu sehen? Hatten ihre Referenten die Ankündigung nicht gelesen? Die ging los mit: "Vi må snakke om det ubehagelige; vi må snakke om Faust." Und dann wird erklärt, dass es in der Produktion von Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson und dem Autor Mikael Torfason - die in Hannover eine großartige "Edda" herausgebracht haben - um Pädophilie und Patriarchat geht. Um schwierige, brüchige Rollenbilder im modernen Geschlechterkampf. Auch in Norwegen sicherlich nicht die Agenda von Parteien, die zum Beispiel das Recht auf Abtreibung neu bezweifeln.

Der vom Salt 'n' Pepa-Klassiker "Let's talk about Sex" abgeleitete Stücktitel zielt bewusst auf einen neuralgischen Punkt in Deutschlands ewigem Top-Drama, der von den allermeisten "Faust"-Regisseuren schon in der Rollenbesetzung ignoriert und meistens auch in den Inszenierungen vertuscht wird: dass Gretchen ein Kind ist, als Faust sie sieht, schlagartig begehrt, verführt und (einvernehmlichen?) Sex mit ihr hat. Arnarsson und Torfason suchen in ihren Texten und Szenen aber nicht nach einer moralischen Verurteilung, wie sie regierenden Rechtspopulisten vielleicht gefallen würde. Sie machen Faust nicht den Pädophilie-Prozess. Sie verlängern vielmehr seine nächtlichen Selbstzweifel im Studierzimmer vom Beginn des ersten Teils der Tragödie in einen inneren Monolog zutiefst verunsicherter Männlichkeit.

Aus Fausts angekränkeltem Selbstbewusstsein - "Den Göttern gleich ich nicht! Zu tief ist es gefühlt; Dem Wurme gleich ich, der den Staub durchwühlt" - entspinnt sich hier die verzweifelte Rechtfertigungsrede eines irritierten Machos. Die Behauptung von Radikalfeministinnen wie Andrea Dworkin, dass Penetration per se Gewalt sei, versucht Faust für sich selbst zu widerlegen (während im Hintergrund männliche Seepferdchen Nachwuchs gebären). Und aus der späteren Rückkehr des männlichen Super-Egos bei Goethe - "Hier ist es Zeit, durch Taten zu beweisen, dass Manneswürde nicht der Götterhöhe weicht" - lässt Arnarsson die herrische Manier eines von Pornografie angestachelten Kerls entspringen, der trotz Mephistos Einspruch, dass Grete noch ein Kind sei, ihr die Jungfernschaft rauben muss.

Die Gretchen-Tragödie ist auch eine Geschichte über weibliche Verzweiflung und Gewalt in der Familie

Neben den Textbausteinen über männliche Ängste, ausgelöst durch radikalfeministische Sprache, und sexuelle Gewalt erfindet Torfason aber vor allem die Geschichte der weiblichen Verzweiflung neu, die Goethe nur in der Kerkerszene als Ausbruch von hysterischem Irrsinn beschreibt. Mit der Stimme Gretchens, ihrer Mutter und fiktionaler Personen, die über diverse Formen der Gewalt in der Familie berichten, werden die seelische Zerstörung und die Langzeitfolgen beschrieben, die durch schwere emotionale Grenzverletzungen verursacht sind.

Es ist ein monologlastiges Diskursdrama, das Thorleifur Örn Arnarsson aus der Vorlage komponiert. Der drohenden Langatmigkeit komplexer Vorträge begegnet er mit zwei Parallelhandlungen, einer musikalischen Walpurgisnacht und der Geschichte von Priscilla Presley. Wie Gretchen von Faust wurde diese von Elvis mit 14 als Lebenspartnerin erwählt. Allerdings wartete der King mit dem ersten Sex, bis Priscilla volljährig wurde und verließ sie erst einige Jahre nachdem sie schwanger war. Die Struktur der ungleichen Beziehungen unterscheidet sich aber kaum. Die gesellschaftliche Akzeptanz auch nicht. Durch die Ausnahmefigur des Mannes bleibt seine Schuld sanktionslos. Heuchelei pur, so weit reicht die Anklage doch.

Der Hexensabbat, der zweieinhalb Stunden lang die Ansprachen ans Publikum rahmt und begleitet, ist dafür ein sanfter Exzess mit warmen Adaptionen von Elvis ("Are you lonesome tonight") bis Nirvana ("Rape me"). Nackt-Muppets mit roten "Make America Great Again"-Kappen zeigen Faust, was Gruppensex ist. Mephisto erzählt, wie ein Kneipenabend in Oslo außer Kontrolle geriet, als eine Perserin und ein Schwuler sich rassistische Witze erzählten, in denen das Wort "Nigger" vorkam. Bizarre Tierwesen und drei Gretchen mit blauen Haaren feiern auf dem Blocksberg den Geist des Widerspruchs. Ein Spektakel fantastischer Assoziationen zu Motiven von "Faust I und II", die spielerisch unterstreichen, dass es für die hier verhandelten Konflikte keine einfachen Antworten und schematischen Lösungen gibt.

Norwegens Staatsführung hat dazu stehend applaudiert. Irgendwie faustisch.

© SZ vom 08.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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