Theater:Der Blick in den Spiegel

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Roger Vontobel inszeniert am Schauspiel Dresden ein Stück über uns: "Die Zuschauer". Christian Friedel macht dazu mit seiner Band die Musik.

Von Egbert Tholl

Wilfried Schulz, Intendant des Staatsschauspiels Dresden, hat eine Gabe ausgeprägt wie kaum ein zweiter in seinem Beruf: Er kann Publikum einfangen. Seit er das Haus 2009 übernahm, führte er es von Zuschauerrekord zu Zuschauerrekord. Und während die Semperoper voll ist mit Busladungen von Touristen, gehen ins Schauspiel die Dresdner Bürger. Die sind auch in einer Bürgerbühne organisiert, dürfen also mitspielen, und den Fußballfans von Dynamo Dresden wird ein eigenes Stück serviert, was für die Anhänger des reichlich glücklosen Vereins tröstlicher Balsam sein dürfte. Und schaut man sich hier etwa den "Hamlet" an, dann ist das riesige Schauspielhaus neben dem Zwinger rappelvoll mit jungen Leuten. Das ist wohl auch der Hauptgrund, weshalb sie Schulz unbedingt in Düsseldorf haben wollen - er soll das notorisch durchhängende Schauspiel dort mit Publikum füllen, ein Unterfangen, das er im Herbst 2016 in Angriff nehmen wird.

Bleibt ihm also noch eine Spielzeit in Dresden, und zu deren Beginn gab er nun eine Uraufführung in Auftrag über das Thema, womit er sich am besten auskennt: "Die Zuschauer". Martin Heckmanns, von 2009 bis 2012 Hausautor und Dramaturg am Dresdener Schauspiel, hat das Stück geschrieben. Und wie immer, wenn einer aus dem Betrieb über den Betrieb schreibt, wenn auch über die andere Seite, ist es sehr lustig und wenig überraschend.

Die "echten" Zuschauer sitzen auf der Bühne - und auf dem Balkon macht Christian Friedel Musik

Heckmanns entwirft viele kleine Szenen, einige davon in verschiedenen Strängen geordnet, die er dann aber ineinander verknotet. So trifft man etwa ein Paar beim ersten Date, immer wieder, während dazwischen andere Sachen passieren. Das Kennenlernen, das so hoffnungsvoll beginnt - ein Typ, der seine Angebetete beim ersten Mal ins Theater mitnimmt, kann so schlecht ja nicht sein -, endet naturgemäß desaströs, weil sich beide in der Theaterrealität verlieren und die Liebe im echten Leben halt nicht immer so leuchtet wie auf der Bühne. Überhaupt feiert Heckmanns diese, die Bühne, mit teilweise hohem Ton, als führte die Sprache der Klassiker ein Eigenleben im Kopf der Zuschauer.

Natürlich fehlt auch eine Suada über eine vielstündige, offenbar ganz und gar unerträgliche Aufführung nicht - bestes Schauspielfutter für Anna-Katharina Muck -, gibt es schlafende, schnarchende, am Ende einer Aufführung bewegungsunfähige Zuschauer und ein Kind, das etwas auf der Bühne sieht, was gar nicht da ist, sondern nur in seiner Fantasie, einen Fuchs nämlich. Die schönste Erfindung Heckmanns' zwischen all den teils liebevollen, teils auch kabarettistischen Szenen ist ein altes Paar: Er hört kaum mehr, sie sieht sehr schlecht, und gegenseitig erzählen sie sich das, was der jeweils andere gerade nicht mitkriegen kann. Und fast alle haben die Hoffnung, dass nach dem Theaterbesuch das Leben und die Welt da draußen ein bisschen anders geworden sind.

Entsprechend setzt der Regisseur Roger Vontobel die "echten" Zuschauer auf die Bühne, unter den Sternenhimmel seiner "Hamlet"-Inszenierung, lässt sechs Darsteller - ein junges, mittelaltes und ein altes Paar - den Zuschauerraum erkunden und macht viel Theaterzauber, der zwar nicht in jedem Moment einleuchtet, dafür aber gut ausschaut: Glitter wird ins Parkett gepustet, fällt sanft auf die Zuschauer, der Kronleuchter senkt sich, und im Balkon spielt eine Band. Es ist dieselbe wie in "Hamlet", wo sie mit postpubertärem Rumpelfuror das jugendliche Publikum anzieht. Der Schauspieler Christian Friedel wurde in Dresden zum Rockstar; inzwischen klingen er und seine Band Woods Of Birnam - am liebsten singt Friedel Shakespeare-Texte - wie die ganz frühen Genesis, aus der Zeit, als bei den Kunstrockern noch nicht der Trommler sang. Friedel ist auch Multifunktions-Anspielpartner für die sechs Schauspieler, vor allem aber mit der Musik beschäftigt, die in all ihrer Schönheit eher nebenher läuft. Im Grunde serviert der Regisseur Vontobel also gleichzeitig ein Konzert und eine Theateraufführung, ohne dass beides immer sinnstiftend miteinander verbunden ist.

Aber eine Sache gelingt Vontobel fabelhaft gut. Er könnte sich auf Heckmanns' Humor verlassen und einfach eine Art Kunstkabarett in hohem Ton inszenieren. Ihn interessiert jedoch, was wirklich im Zuschauer passiert. Die Verwirrung, die sein Abend auslöst, kennt man selbst von Theaterbesuchen; hier nun kann man sie erfahren wie in einem Spiegel. Dazu zaubert Vontobel Poetisches, wandeln Engel vorüber, die den Verlauf anhalten und sich zwar am Rande des Kitsches bewegen, mit Verzückung aber davon künden, wie schön Theater sein kann.

© SZ vom 01.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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