Theater:Das volle Boot

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"Wir sind die Unangekündigten. Die Schutzflehenden": Das Schauspiel Leipzig nimmt sich mit Texten von Aischylos und Jelinek der Flüchtlingsthematik an.

Von Helmut Schödel

Das Boot ist voll. Junge Frauen sind die Passagiere, die, ganz in Weiß und nach Art der griechischen Tragödie mit Masken vor den Gesichtern, um Schutz flehen. Die fünfzig Töchter des Danaos haben ihre ägyptische Heimat verlassen und suchen Schutz im griechischen Argos. Sie flüchten vor einer Ehe mit den Söhnen des Aigyptos. Denn einem Orakel zufolge würde ihr Vater von einem der Schwiegersöhne ermordet.

Man sieht auf der Bühne des Leipziger Schauspielhauses, wo das Boot anlegt, einen fast dreißigköpfigen Chor fünfzig Jungfrauen darstellen. Sie zeigen sich in geordneter Formation, man hört das Stampfen ihrer Kothurne. Sie halten sich an die Gesetze des Rituals, Chaos ist an Bord nicht zu befürchten. Aber Schlimmeres schon: Nimmt Pelasgos, der Vertreter der Macht, sie auf, riskiert er einen Krieg mit den abgewiesenen potenziellen Schwiegersöhnen. Die Asylsucherinnen, die notfalls mit Selbstmord drohen, erwarten eine machtvolle, persönliche Entscheidung von ihm. Pelasgos aber will das Volk befragen, damit man später nicht sagen kann: "Er schützte Fremde - und verdarb dadurch sein Land." Pelasgos befindet sich in einer tragischen Situation: Will er den Krieg vermeiden, werden wegen der unterlassenen Hilfeleistung die Götter verrücktspielen.

Schon vor 2500 Jahren hat Aischylos eine Trilogie entworfen, deren erster Teil noch erhalten ist, während man über den Rest antike Kommentare befragen muss; eine Trilogie, in der sich schon in der damaligen Zeit ein Herrscher auf Demokratie besinnt, auf Volksbefragung, und sich dem Widerspruch zwischen Politik und Moral stellt. Wohl deshalb hat sich Elfriede Jelinek, als 2012 prekäre Zustände im österreichischen Auffanglager Traiskirchen bekannt wurden und Flüchtlinge vor der Wiener Votivkirche campierten, an Aischylos erinnert. Wie an eine Vision von Menschlichkeit und umsichtiger Führung.

In Aischylos' "Die Schutzflehenden" flüchten die Töchter des Danaos aus Ägypten nach Griechenland.

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(Foto: Bettina Stöß)

Etwa dreißig Darstellerinnen stehen für die eigentlich fünfzig fliehenden Jungfrauen.

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(Foto: Bettina Stöß)

Die gewölbte Bühne am Schauspiel Leipzig stellt das Innere des Flüchtlingsboots dar.

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(Foto: Bettina Stöß)

Später tauschen die Jungfrauen ihre weißen Gewänder gegen schwarze Röcke und grüne Blusen - ein Markenzeichen aus Stücken von Elfriede Jelinek.

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(Foto: Bettina Stöß)

Die Inszenierung mischt Szenen aus Jelineks "Die Schutzbefohlenem" mit Aischylos' "Die Schutzflehenden". Ein theatraler Kommentar auf die Flüchtlingskrise.

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(Foto: Bettina Stöß)

Dabei kriegt man gerade in Österreich sehr leicht die Staatsbürgerschaft - wenn man zum Beispiel die Tochter Boris Jelzins oder ein anderer Promi ist.

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(Foto: Bettina Stöß)

Die Szenen aus Jelineks Stück sorgen dafür, dass sich der Abend aus seiner antiken Starre löst.

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(Foto: Bettina Stöß)

Am Ende tritt noch ein weiterer Chor im Parkett auf: die Unangekündigten, die auch Schutz suchen. Die Botschaft: Wir alle sitzen im selben Boot.

Ihr Stück "Die Schutzbefohlenen" wurde durch den großen Jelinek-Regisseur Nicolas Stemann zum Erfolg, als ein Stück politischen Theaters, nachgespielt an vielen Bühnen. Enrico Lübbe hat nun in Leipzig den Text mit dem Aischylos-Fragment "Die Schutzflehenden" kombiniert. Die Autorin hat für diese Aufführung allerdings eine Verquickung der Szenen nicht erlaubt und sich ein Nacheinander vorgestellt. Wie man jetzt sieht, braucht man zur Verdeutlichung des politischen Konflikts nicht unbedingt Stacheldraht oder teilnehmende Original-Asylbewerber. Das Stadttheater hat durchaus die Fähigkeit, drastisch zu argumentieren, wenn die Theaterleute ihr Handwerk beherrschen. So schlug die Leipziger Aufführung den Bogen vom antiken Ritus zum heutigen Chaos, von der göttlichen Regel zur politischen Improvisation, von einer wertebewussten Gesellschaft zur Modernisierung eines Dilemmas.

Das Boot ist voll. Auf Hugo Gretlers Bühne schaut man in das Innere des vollen Flüchtlingsschiffs, dessen Wände die Asylsuchenden gefangen zu halten scheinen. Dann tritt ein neuer Chor auf: schwarze Röcke, grüne Blusen, blonde Zöpfe, das Jelineksche Markenzeichen. Das Stampfen der Choristen hat nun nichts Rituelles mehr, es klingt nach Wut und Protest. Die weißen Gewänder aus dem ersten Teil hängen jetzt über der Bühne, bilden den Hintergrund für Jelineks Text, als wäre er eine Überschreibung der antiken Vorlage. Sie dienen zugleich als eine Art Leinwand, auf die eine Sonne projiziert wird. Auch der Sonne wachsen blonde Zöpfe, sie ist bald schon braun gebrannt und setzt sich eine Sonnenbrille auf. Und Howard Carpendale singt "Deine Spuren im Sand, die ich gestern noch fand". Der Abend löst sich aus der antiken Starre, Lübbe bemüht sich, auf den immer auch ironischen Gestus von Jelineks Schreiben einzugehen, das sich über Wortspiele als Motor in die Stoffe bohrt.

Dass man in Österreich leicht eingebürgert werden kann, wenn man untraumatisiert, ohne Boot und Fußmarsch kommt, zeigt Jelinek am Beispiel der Tochter von Boris Jelzin und der Starsängerin Anna Netrebko. Geld muss man haben und VIP muss man sein. Man hört in Leipzig die Netrebko eine "Traviata"-Arie singen, und Tatjana Jumaschewa macht Party. Da bekommen zwei Neubürger plötzlich ein Gesicht. Die anderen bleiben Masse.

Am Ende tritt zusätzlich zum Chor auf der Bühne ein Chor im Parkett auf. "Wir sind die Unangekündigten. Die Schutzflehenden. Die Schutzbefohlenen." Sie sind da, alle sitzen jetzt in einem Boot. Der Leipziger Abend zeigt auch durch Schauspieler wie Ellen Hellwig, Julia Preuß, Bettina Schmidt, Hartmut Neuber und Michael Pempelforth große Wirkung und wird zu Recht bejubelt.

Am Abend danach gab es in der "Residenz", einer Spielstätte auf dem Gelände einer alten Baumwollspinnerei, eine Uraufführung der Wiener Gruppe God's Entertainment: "Die neue europäische Tragödie", eine Performance zur Flüchtlingsthematik. Man betritt den Raum vorbei an nackten Menschen, die auf allen Vieren an Hundeleinen geführt werden, und denkt an Pasolinis "Salò oder die 120 Tage von Sodom". Auf Schienen fährt ein alter Lastkarren herein mit Säcken voll "deutscher Erde", und man denkt an Bilder von Konzentrationslagern. Es wird eine Wand aufgestellt, und man denkt an die Mauer. Es wird in Fahnen onaniert, und man denkt daran, wie leicht es früher war, zu provozieren . . . Das war der alte Performance-Humbug, der nur noch sich selber meint, im Grunde eine protzige Koketterie.

Im Stadttheater werden Stoffe überhöht, von einer Gruppe "von außen" hätte man sich mal was Konkretes gewünscht. Eine Performance über Waffenhandel zum Beispiel, über Tragödienverursachung überhaupt, statt gruppentheatralischer Übungen für die Alternativszene von vorgestern. Das Konkrete kann man sich nun in Leipzig in Podiumsdiskussionen abholen, die das Theater begleitend anbietet.

© SZ vom 07.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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